„Tausende alawitische Zivilisten sind vor den Massakern in der Stadt Jableh und den umliegenden Dörfern geflohen und haben in und um den Militärstützpunkt Hmeimim Zuflucht gesucht“, erklärte die in Großbritannien ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Die EU begrüßte die Ankündigung der syrischen Übergangsregierung, die Gewalttaten zu untersuchen.
Seit Donnerstag war es zu den bisher heftigsten Kämpfen zwischen Regierungstruppen und Anhängern des gestürzten Machthabers Bashar al-Assad im Westen des Landes gekommen. Nach Angaben der Beobachtungsstelle vom Mittwoch wurden seit Beginn der Gewalt am Donnerstag 1383 Zivilisten getötet, die meisten davon Alawiten.
Die Kämpfe ereigneten sich in Regionen, in der vorwiegend Angehörige der religiösen Minderheit der Alawiten leben, der auch Assad angehört, darunter Tartus, Latakia, Hama und Homs.
Die vor der Gewalt Geflüchteten kamen den Aktivisten zufolge ab Freitag auf dem russischen Luftwaffenstützpunkt an. Einige von ihnen lehnten es aus Angst vor weiterer Gewalt ab, nach Hause zurückzukehren. Andere Familien hätten sich in den Bergen versteckt.
Der Bürgermeister von Jableh, Amjad Sultan, sagte der Nachrichtenagentur AFP, er sei zu dem Stützpunkt gekommen, um die Menschen davon zu überzeugen, dass eine Rückkehr in ihre Häuser sicher sei. Die Sicherheitskräfte hätten begonnen, in der Stadt die Kontrolle zu übernehmen.
Einige der Vertriebenen protestierten vor dem Armeestützpunkt. Sie forderten internationalen Schutz und riefen „Russland, Russland“. Assad war nach seinem Sturz im Dezember durch die islamistische HTS-Miliz und verbündete Milizen nach Russland geflüchtet, das ihn jahrelang gestützt hatte.
Moskau hatte sich am Dienstag besorgt über die Vorgänge in Syrien geäußert. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte vor Journalisten, Moskau wolle Syrien „vereint, erfolgreich und freundlich sehen“. Russland stehe mit anderen Ländern zur Situation in Syrien in Kontakt.
Am Montag erklärte die syrische Übergangsregierung den Militäreinsatz für beendet. Sie setzte eine Untersuchungskommission ein, welche die Gewalt im Westen des Landes untersuchen soll.
Die Europäische Union begrüßte am Mittwoch diesen Schritt. Es müsse alles getan werden, um zu verhindern, „dass sich solche Verbrechen wiederholen“, hieß es in einer Erklärung der 27 Mitgliedstaaten. Die EU-Länder verurteilten „die Angriffe der Pro-Assad-Milizen auf die Sicherheitskräfte“ ebenso wie „die schrecklichen Verbrechen gegen Zivilisten, einschließlich der Hinrichtungen, die angeblich von bewaffneten Gruppen begangen wurden, welche die Sicherheitskräfte der Übergangsbehörden unterstützen“.
Es sind die folgenschwersten Angriffe seit dem Sturz Assads durch die islamistische HTS-Miliz und mit ihr verbündeter Gruppen am 8. Dezember. Nach einem 14 Jahre langen Bürgerkrieg unter Assad versucht der neue Übergangspräsident Ahmed al-Sharaa, seine Autorität im gesamten Land durchzusetzen.
Die neue syrische Führung hat wiederholt versichert, die Minderheiten im Land schützen zu wollen. Die Alawiten fürchten jedoch Vergeltungsmaßnahmen gegen ihre Gemeinschaft – sowohl als religiöse Minderheit als auch wegen ihrer Treue zur Assad-Familie.
Die HTS ist aus der Al-Nusra-Front, dem syrischen Ableger des Terrornetzwerks Al-Kaida, hervorgegangen. Sie wird vom Westen weitgehend als „Terrororganisation“ eingestuft – auch wenn sie versucht, sich ein neues, gemäßigtes Image zu geben.
Die USA begrüßten unterdessen eine Einigung der neuen syrischen Führung mit den kurdisch geführten Demokratischen Kräften Syriens (SDF) zur Integration der kurdischen Autonomieverwaltung in die nationale Regierung. Außerdem bekräftigten die USA „ihre Unterstützung für einen politischen Übergang, der ein glaubwürdiges und nicht spaltendes Regieren unter Beweis stellt“, erklärte US-Außenminister Marco Rubio am Dienstag. Dies sei „der beste Weg, um weitere Konflikte zu vermeiden“, betonte Rubio.
Die Einigung war am Montag verkündet worden. Staatliche Medien veröffentlichten ein Foto, das den Handschlag des islamistischen Übergangspräsidenten al-Sharaa mit dem SDF-Chef Maslum Abdi nach der Unterzeichnung des Abkommens zeigt, das bis zum Jahresende umgesetzt werden soll. SDF-Anführer Abdi bezeichnete die Vereinbarung als eine „echte Gelegenheit“, ein neues Syrien aufzubauen.
Am Mittwoch gab die Syrische Beobachtungsstelle die Tötung eines ehemaligen syrischen Diplomaten bekannt, der unter Assad zur Opposition übergelaufen war. Nureddin al-Labbad sowie dessen Bruder wurden demnach on Bewaffneten im Haus des Ex-Diplomaten erschossen.
Al-Labbad sei zwei Wochen zuvor aus Frankreich nach Syrien zurückgekehrt. In Frankreich habe er die Nationale Syrische Koalition vertreten – einen Zusammenschluss von Oppositionskräften, deren Ziel der Sturz Assads war. Al-Labbad hatte nach Angaben der Beobachtungsstelle 2013 seinen Posten im Außenministerium aufgegeben, um sich der Opposition anzuschließen. Die genaueren Umstände der Tötung des ehemaligen Diplomaten sowie mögliche Motive dafür waren zunächst nicht bekannt.
Die Sicherheitskräfte verhängten nach dem Angriff in al-Sanamayn eine Ausgangssperre, wie ein AFP-Journalist berichtete. Die Ausgangssperre wurde in der Früh wieder aufgehoben.
Im Onlinedienst Telegram verbreitete Videos zeigen, wie bewaffnete Männer ein Gebäude stürmen, bei dem es sich angeblich um das Haus al-Labbads handelt. Die Aufnahmen konnten von AFP nicht unabhängig geprüft werden.
Die genaueren Umstände der Tötung des ehemaligen Diplomaten sowie mögliche Motive dafür waren zunächst nicht bekannt. In den vergangenen Monaten, insbesondere seit dem Sturz Assads im Dezember, war es immer wieder zu Gewalt zwischen ethnischen Gruppen oder Racheakten gekommen.