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news/APA/Montag, 07.10.24, 16:07:16

Medizin-Nobelpreis für microRNA-Entdecker

Der Nobelpreis für Medizin oder Physiologie ist am Montag den US-Forschern Victor Ambros und Gary Ruvkun für die Entdeckung der microRNA (miRNA) zuerkannt worden. Dabei handle es sich um die "Entdeckung eines grundlegenden Prinzips, für die Regulierung der Genaktivität", dessen Potenzial auch in der Therapieentwicklung ausgelotet wird, so das Karolinska-Institut in Stockholm. Die Verkündung der Medizin-Auszeichnung bildet traditionell den Auftakt für die Nobelpreis-Woche.
APA/APA/AFP/JONATHAN NACKSTRAND

Victor Ambros (70) arbeitet an der University of Massachusetts Medical School, Gary Ruvkun (72) an der Harvard Medical School sowie am Massachusetts General Hospital. Als der Preis bekanntgegeben wurde, war es an der US-Ostküste noch zeitig in der Früh. Ruvkun wurde deswegen vom Anruf der Nobelversammlung geweckt und klang am Telefon noch sehr müde. Ambros hingegen ging zunächst gar nicht ans Telefon, wie der Sekretär der Nobelversammlung des Karolinska-Instituts, Thomas Perlmann, sagte.

Ruvkun äußerte sich im schwedischen Radiosender SR überwältigt, nachdem er mitten in der Nacht den Anruf des Nobelpreiskomitees bekommen hatte: „Das ist eine große Sache. Wirklich groß. Es ist ein Erdbeben“, sagte der Forscher: „Unser Hund ist völlig verwirrt, weil wir im Haus herumrennen, obwohl es draußen stockdunkel ist.“ Ambros erhielt die gute Nachricht dann schlussendlich von einem SR-Reporter: „Wow, das ist unglaublich! Das wusste ich gar nicht“, war seine erste Reaktion.

Ursprünglich waren die beiden Forscher daran interessiert, wie sich verschiedene Zelltypen aus der jeweils gleichen Erbinformation herausbilden, die in allen Zellen in identischer Form enthalten ist. Dabei fanden sie winzige Erbgut-Teile – genannt microRNA – in Fadenwürmern (Caenorhabditis oder C. elegans), die sich später als auch in anderen Organismen aktiv herausstellten. So wisse man heute, dass das menschliche Genom die Bauanleitung für über tausend microRNAs enthält. Sie nehmen eine wichtige Rolle in der gezielten Umsetzung von genetischer Information in bestimmte Eiweiße (Proteine) ein.

Als Schlüssel zu der Entdeckung von Ambros und Ruvkun entpuppte sich der unscheinbare Fadenwurm, an dem die beiden Wissenschafter ab den 1980er-Jahren forschten. Dieses winzige Tier verfügt trotz seiner Größe über verschiedene Zelltypen. Seit den 1960er-Jahren dachte man, dass die Übersetzung der DNA über sogenannte Transkriptionsfaktoren geregelt wird, die an bestimmte DNA-Regionen anbinden, die dortigen Informationen in Messenger-RNA (mRNA) übersetzen, die dann jenen Strukturen in der Zelle sozusagen den Auftrag erteilt, ein bestimmtes Protein aufzubauen. Bis die beiden nunmehrigen Medizin-Nobelpreisträger im Jahr 1993 ihre grundlegende Arbeit im Fachmagazin „Cell“ veröffentlichten, in der sie einen weiteren Regulationsweg vorstellten, ging man in der Wissenschaft davon aus, dass der Zugang über die mRNA der einzige Weg war.

Die beiden US-Forscher interessierten sich dafür, wie bei C. elegans über Gene die zeitliche Abfolge der Programme zur Bildung von verschiedenen Zelltypen wie Nerven- oder Muskelzellen geregelt wird. Bei zwei mutierten Wurmstämmen namens „lin-4“ und „lin-14“ war diese Abfolge gestört. Bei der Analyse der Funktion der hier veränderten Erbgut-Teile wurde ihnen klar, dass „lin-4“ auch das Gen „lin-14“ beeinflusste. Wie dies geschah, konnten Ambros und Ruvkun in der Folge klären.

So erkannte Ambros, dass „lin-4“ ein erstaunlich kurzes RNA-Molekül herstellte, das keinen genetischen Code enthielt, mit dem es die Proteinproduktion anregen könnte. Es schien also als ob diese „microRNA“ für die Hemmung des Gens „lin-14“ verantwortlich war. Wie dies vonstatten ging zeigte wiederum Gary Ruvkun, der dem „Scientific Advisory Board“ des Instituts für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien angehört. Der Forscher, der erst vergangene Woche zu Besuch in Wien war, erkannte wie diese microRNA nicht etwa die Bildung von mRNA auf Basis von „lin-14“, sondern die Produktion des Eiweißstoffes auf dessen Basis unterbindet.

Für IMBA-Wissenschafter Julius Brennecke sind Ambros und Ruvkun zwei Topwissenschafter deren Arbeit eine „absolute Pionierleistung“ war, die aus dem Bereich der „von Neugier getriebenen Grundlagenforschung“ herausgekommen ist. Ihre Erkenntnisse hätten eine neue Dimension eröffnet „an die überhaupt niemand gedacht hat“. Das galt auch für die erste Publikation zu dem neuen Grundprinzip der Genregulation: Sie stieß zunächst nicht auf großen Widerhall in der Fachwelt.

Das änderte sich allerdings um das Jahr 2000, als klar wurde, dass dieser Mechanismus nicht wie vielfach angenommen eine Eigenart der Biologie der kleinen Fadenwürmer war. Wiederum war es damals Ruvkuns Forschungsgruppe, die über die Entdeckung einer weiteren microRNA berichtete. Um diese Zeit arbeitete die Wiener Biologin Kristin Tessmar-Raible am Labor des Neo-Medizin-Nobelpreisträgers mit: „Ich habe damals mitgenommen, dass man mutig Wissenschaft machen kann und coole Sachen dabei rauskommen können.“ Daraus lasse sich lernen: „Selbst wenn etwas erst einmal komisch aussieht, dann muss da wohl das Komische die Wahrheit sein.“

Mittlerweile sei klar, dass es eine Unzahl an microRNAs gibt, die in verschiedensten, auch komplexen Organismen eine entscheidende Rolle spielen: Diese „unerwartete Ebene“ der Genregulation, sei „während der gesamten tierischen Entwicklung, wie auch bei der Entwicklung von erwachsenen Zelltypen von entscheidender Bedeutung“, heißt es. Michael Jantsch von der Medizinischen Universität Wien strich hervor, dass man nun die Idee verfolgt, microRNAs als Therapeutika anzuwenden. Es liefen bereits „viele klinische Studien“, von denen einige schon in Phase-II seien, etwa gegen Hepatitis C. Auch Therapien gegen Krebserkrankungen könnten künftig auf miRNA-Basis möglich sein.

Victor Ambros forscht und lehrt im Nordosten der USA. Er wurde im US-Bundesstaat New Hampshire geboren und wuchs im benachbarten Vermont auf. Seine Doktorarbeit schrieb er am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Dort begann er als Postdoc auch, die Entwicklung der Fadenwürmer zu untersuchen. Nach langjährigen Stationen an der Harvard University und an der Dartmouth Medical School erhielt er eine Professur an der University of Massachusetts Medical School.

Gary Ruvkun stammt aus Berkeley im US-Bundesstaat Kalifornien und verbrachte sein bisheriges Berufsleben ebenfalls in den USA. Er studierte an der University of California und der Harvard University, ehe er an das MIT in Cambridge wechselte. Dort untersuchte er, wie auch Ambros, in den 1980er-Jahren Fadenwürmer im Labor von Robert Horvitz, der 2002 den Nobelpreis erhielt. Danach forschte Ruvkun am Massachusetts General Hospital und der Harvard Medical School, wo er derzeit Professor für Genetik ist.

Der Nobelpreis-Reigen wird am Dienstag mit der Bekanntgabe der Auszeichnung für Physik fortgesetzt, Chemie folgt am Mittwoch, Literatur am Donnerstag, der Friedens-Nobelpreis am Freitag und am Montag darauf die Wirtschaftswissenschaften. Die Preise sind heuer mit je elf Millionen Schwedischen Kronen (969.000 Euro) dotiert. Die Überreichung findet am 10. Dezember, dem Todestag des Stifters Alfred Nobel, statt.

(S E R V I C E – )