Nehammer war zuvor mit SPÖ-Chef Andreas Babler zusammengetroffen und hatte sich ebenso wie Babler mit Bundespräsident Alexander Van der Bellen ausgetauscht. Über den genauen Inhalt der Unterredungen war vorerst nichts zu erfahren.
Am späten Freitagnachmittag tagte dann der ÖVP-Parteivorstand, der Nehammer mittels Wortmeldungen „den Rücken gestärkt“ habe, wie es zur APA hieß. Zwischenzeitlich hatte es Gerüchte über eine Ablöse Nehammers gegeben, brodelt es doch seit Wochen vor allem im Wirtschaftsflügel der Partei. Für den Abend war noch eine Klubsitzung geplant.
Nach dem Vorstand wandte sich Nehammer per Video an die Öffentlichkeit. Klare Aussagen vermied er dabei: Er bedaure den Schritt der NEOS. „Ich bin der Meinung, dass es gerade in diesen herausfordernden Zeiten eine Zusammenarbeit der Kräfte der politischen Mitte braucht, weil für Österreich viel am Spiel steht.“ In welcher Form die Verhandlungen fortgesetzt werden, sagte Nehammer nicht. Man sei aber „bereit, Verantwortung zu übernehmen“ und habe „den Mut, politische Reformen anzugehen und zu tun, was notwendig ist“. Anschließend skizzierte er die ÖVP-Positionen und rief „die konstruktiven Kräfte der politischen Mitte auf, diesen Weg mit uns zu gehen“.
SPÖ-Chef Babler meinte nach dem Parteipräsidium Freitagabend, dass der Ball nun bei Nehammer liege: „Unsere Hand bleibt ausgestreckt.“ Es liege nun an Nehammer die Bereitschaft der SPÖ aufzunehmen und auf Augenhöhe zu verhandeln. Parallelverhandlungen der ÖVP mit den Freiheitlichen würde die Sozialdemokratie aber nicht dulden.
Scharfe Kritik übte Babler an den NEOS. Die hätten Parteitaktik vor Staatsinteressen gestellt. Dabei sei man kurz vor dem Ziel gewesen, die Verhandlungen zu einem positiven Ende zu bringen.
Meinl-Reisinger hatte am Vormittag bei ihrem kurzfristig einberufenen Presseauftritt erklärt, sie habe Nehammer und Babler sowie Bundespräsident Van der Bellen Freitagfrüh von der Entscheidung, die Verhandlungen zu verlassen, informiert. Vorausgegangen sei die Erkenntnis, dass kein Durchbruch mit „Schwarz-Rot“ erzielt werden konnte. Für grundsätzliche Reformen habe es diese Woche mehrfach ein Nein gegeben.
Die NEOS vermissten zuletzt in den Verhandlungen bei mehreren Projekten Reformwillen – von Pensionen bis zu Föderalismusreform im Sinne von Kompetenzänderungen zwischen Bund und Ländern. Der Entschluss, aus den Verhandlungen auszusteigen, sei am Donnerstagabend in der pinken Steuerungsgruppe einstimmig gefallen, erfuhr die APA.
Die NEOS seien nicht naiv in die Verhandlungen gegangen und hätten sich bis zuletzt um Kompromissvorschläge bemüht, betonte Meinl-Reisinger. Aber in den letzten Tagen sei der Eindruck entstanden, dass in zentralen Fragen „leider nicht nur keine Fortschritte, sondern eigentliche Rückschritte gemacht wurden“. Wieder einmal werde nur bis zum nächsten Wahltag gedacht und zum Schluss stehe ein Abtausch wie „auf einem Bazar“, kritisierte die NEOS-Chefin. Sie sprach von „Kurzsichtigkeit“, ohne mit Schuldzuweisungen konkreter zu werden.
Namentlich dankte Meinl-Reisinger nur den Vertretern der ÖVP, Bundeskanzler Nehammer und Klubobmann August Wöginger, denen sie auch den Willen zu Reformen und den Blick über den Tellerrand zuerkannte. In Bezug auf die SPÖ zeigte die pinke Parteichefin Verständnis, dass der Weg für die Sozialdemokratie in vielen Bereichen weiter sei, appellierte aber an die „staatspolitische Verantwortung, den Standort nicht aus dem Blick zu lassen“. ÖVP und SPÖ habe sie versichert, dass man weiter konstruktiv die Hand reichen werde und das bisher am Verhandlungstisch Erreichte auch im Parlament unterstützen werde.
ÖVP, SPÖ und NEOS hatten seit Mitte November über die Bildung einer gemeinsamen Dreierkoalition verhandelt. Knackpunkt war dabei von Anfang an das Thema Budget und Steuern – verschärft durch den großen Konsolidierungsbedarf.
Die ÖVP reagierte am Freitag mit einer Schuldzuweisung an die SPÖ. „Das Verhalten von Teilen der SPÖ hat zur aktuellen Situation geführt“, meinte Generalsekretär Christian Stocker in einer Aussendung. „Während sich Teile der Sozialdemokratie konstruktiv eingebracht haben, haben in den letzten Tagen die rückwärtsgewandten Kräfte in der SPÖ überhandgenommen“, so Stocker.
Nötig seien nachhaltige Veränderungen und Reformen, um Beschäftigung und Wohlstand zu halten, die Pensionen abzusichern sowie Sicherheit und klare Regeln in der Integration durchzusetzen. Offen ließ er, wie die ÖVP nun weiter zu tun gedenkt. ÖVP und SPÖ kommen gemeinsam im Nationalrat auf eine hauchdünne Mehrheit von einem Mandat Überhang. Sie könnten nun versuchen, eine Zweierkoalition zu bilden oder die Grünen als dritten Partner dazunehmen.
SPÖ-Bundesgeschäftsführer Klaus Seltenheim wies im Ö1-„Mittagsjournal“ die Schuld von sich. Die NEOS hätten versucht, mit ihren neun Prozent der Wählerstimmen 100 Prozent ihres Wahlprogramms durchzubringen. „Offensichtlich haben sie jetzt gemerkt, dass ihnen das Ganze eine Nummer zu groß geworden ist.“
Abwartend und gleichzeitig kritisch äußerten sich die Grünen, die alternativ ein potenzieller Partner einer Dreier-Koalition mit ÖVP und SPÖ wären. Bundessprecher Werner Kogler schrieb auf Social-Media-Kanälen, dass Volkspartei, Sozialdemokraten und NEOS nun erklären müssten, warum sie die Republik monatelang warten ließen und dann nichts zustande brächten: „Nach Sand im Getriebe und gegenseitigem Abputzen sehen wir jetzt eine Flucht aus der Verantwortung. Ein Schauspiel, das weiterer Aufklärung bedarf.“
Die FPÖ warnte am Freitag vor einer neuen Dreier-Variante und forderte den umgehenden Rücktritt Nehammers. „Nehammer muss sich umgehend zu den Vorgängen äußern. Er verursacht stündlich größeren Schaden“, so der freiheitliche Generalsekretär Michael Schnedlitz. Parteichef Herbert Kickl sprach von einer „politischen Missgeburt der Verlierer-Ampel“.