Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den Verdächtigen wegen fünffachen Mordes, sagte der Leitende Oberstaatsanwalt Horst Walter Nopens in Magdeburg. Der Tatvorwurf laute darüber hinaus versuchter Mord in 200 Fällen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Der Tatverdächtige wurde am Samstagabend dem Haftrichter vorgeführt. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ das Amtsgericht einen Haftbefehl, der 50-Jährige wurde in Untersuchungshaft genommen und in eine Justizvollzugsanstalt gebracht.
Das Auto war am Freitagabend auf einem Weihnachtsmarkt mit hoher Geschwindigkeit in eine Menschenmenge gerast. Fünf Menschen kamen ums Leben. Nach Angaben der Polizei Magdeburg starben vier Frauen – im Alter von 52, 45, 75 und 67 Jahren – sowie ein neunjähriger Bub. 200 Menschen wurden teils schwer verletzt. Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) sprach von einem „menschenverachtenden Anschlag“. Nach Informationen der Stadt wurden die Opfer in 15 Kliniken gebracht, auch nach Brandenburg.
Der mutmaßliche Täter soll mit seinem Wagen über einen Flucht- und Rettungsweg auf den Weihnachtsmarkt gelangt sein, berichtete Tom-Oliver Langhans, der Direktor der Polizeiinspektion Magdeburg. Die Fahrt habe nur rund drei Minuten bis zur Festnahme gedauert.
Der Rettungsweg war nach Angaben der Stadt nicht durch Sperren oder Poller geschützt. Notarzt und Feuerwehr sollten über diesen Weg bei Unfällen oder anderen Einsätzen auf dem Platz gelangen können, erklärte Ronni Krug, Beigeordneter für Personal, Bürgerservice und Ordnung der Stadt. Dort seien aber mobile Einsatzkräfte stationiert gewesen. Das Konzept habe sich „über lange Jahre bewährt“.
Bei dem noch am Abend festgenommenen Verdächtigen handelt es sich um Taleb A., einen Arzt aus Bernburg, der aus Saudi-Arabien stammt. Der Mann ist islamkritischer Aktivist. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur bezeichnet sich der 50-Jährige, der seit 2006 in Deutschland lebt, selbst als Ex-Muslim. Demnach stellte er im Februar 2016 einen Asylantrag, über den im Juli desselben Jahres entschieden wurde. Der saudische Staatsbürger erhielt damals Asyl als politisch Verfolgter.
In sozialen Medien und Interviews erhob Taleb A. zuletzt teils wirr formulierte Vorwürfe gegen deutsche Behörden. Er hielt ihnen unter anderem vor, nicht genügend gegen Islamismus zu unternehmen. Wie eine Sprecherin des Gesundheitsunternehmens Salus auf Anfrage mitteilte, war der 50-Jährige als Facharzt für Psychiatrie im Maßregelvollzug in Bernburg tätig. Er habe mit suchtkranken Straftätern gearbeitet und sei seit März 2020 in der Einrichtung tätig gewesen.
Der Mann war am Tatort nach der Fahrt von Einsatzkräften gestellt und festgenommen worden. Nach derzeitigem Ermittlungsstand könne ein zweiter Täter ausgeschlossen werden, sagte ein Polizeisprecher in Magdeburg.
Saudi-Arabien hatte Deutschland vor Taleb A. gewarnt, hieß es aus saudischen Sicherheitskreisen. Das Königreich habe seine Auslieferung beantragt, darauf habe Deutschland nicht reagiert. Der Mann stammt demnach aus der Stadt Al-Hofuf im Osten Saudi-Arabiens. Er sei Schiit gewesen. Nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung in dem mehrheitlich sunnitischen Land sind schiitisch. Es gibt immer wieder Berichte über Diskriminierungen gegenüber Schiiten im Land. Saudi-Arabien verurteilte die tödliche Attacke in einer Mitteilung auf X – in der Stellungnahme erwähnte das Land den Verdächtigen nicht.
Nach dpa-Informationen lag gegen Taleb A. zudem ein Verfahren der Amtsanwaltschaft Berlin wegen des Missbrauchs von Notrufen vor. Dem Angeklagten wurde vorgeworfen, im Februar im Dienstgebäude der Berliner Polizei den Notruf der Feuerwehr gewählt zu haben, ohne dass ein Notfall vorgelegen habe. Daher wurde beim Amtsgericht Tiergarten Strafbefehl beantragt, der mit 20 Tagessätzen zu je 30 Euro erlassen wurde.
Der Angeklagte habe Einspruch eingelegt. Zum Hauptverhandlungstermin am vergangenen Donnerstag (19. Dezember) sei Taleb A. nicht erschienen, so die Berliner Staatsanwaltschaft. Der Einspruch sei auf Antrag der Amtsanwaltschaft verworfen worden.
Nach Angaben von Haseloff raste der Mann bei dem Anschlag mit einem Leihwagen in die Menschenmenge. Die „Bild“ schrieb unter Berufung auf die Polizei, dass sich die Fahrt auf dem Gelände über 400 Meter erstreckt habe. Es würden Durchsuchungen durchgeführt, sagte eine Sprecherin.
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach bei einem Besuch vor Ort von einer „furchtbaren, wahnsinnigen Tat“. Es gebe keinen friedlicheren und fröhlicheren Ort als einen Weihnachtsmarkt. Jetzt sei wichtig, dass man aufkläre, mit aller Präzision und Genauigkeit, sagte Scholz. „Es darf nichts ununtersucht bleiben – und so wird es auch sein.“ Man müsse den Täter, seine Handlungen und Motive genau verstehen und darauf mit den strafrechtlichen Konsequenzen reagieren.
Ministerpräsident Haseloff will den Opfern und Angehörigen der Todesfahrt unter die Arme greifen. Sein Kabinett habe Festlegungen getroffen über „finanzielle und organisatorische Ressourcen“, sagte Haseloff. Mit dem Kanzler habe man darüber geredet, wie die Hilfe und Unterstützung des Bundes aussehen werde.
Die Stadt Magdeburg und Wohlfahrtsverbände richteten Spendenkonten für die Opfer und Betroffenen ein. Es gehe darum, den Betroffenen möglichst schnell Unterstützung zu ermöglichen, erklärte die Stadt. Der Opferbeauftragte der Bundesregierung, Pascal Kober, kümmert sich nach der Todesfahrt um die Betreuung der Betroffenen. Er rechnet damit, dass möglicherweise mehrere hundert Menschen Hilfe benötigen. Es handle sich um „einen der größten Anschläge, die wir bisher zu verzeichnen hatten“, sagte Kober dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (Sonntag). „Wenn man Tatzeugen und Ersthelfer mitrechnet, potenziert sich das auf eine hohe dreistellige Zahl betroffener Menschen.“ Bei Bedarf werde psychosoziale und praktische Hilfe vermittelt, teilte das Justizministerium mit.
Die Anteilnahme nach der Tat in Magdeburg ist groß. Allein vor dem Dom der Landeshauptstadt beteiligten sich am Abend nach ersten Schätzungen der Polizei mehr als 1.000 Menschen am Gedenken. Für sie war eine große Videoleinwand aufgebaut, auf die der Gottesdienst übertragen wurde. Danach sagte Oberbürgermeisterin Simone Borris (parteilos): „Ich wünsche uns allen, dass wir als Stadtgesellschaft uns davon nicht beeinträchtigen lassen.“
In das Gedenken in der Innenstadt mischten sich am Abend aber auch rechte Parolen. Etwa 1.000 Teilnehmer versammelten nach einer ersten Schätzung der Polizei auf einem zentralen Platz der Landeshauptstadt von Sachsen-Anhalt.
Auch international gab es Anteilnahme. Mehrere Staats- und Regierungschefs drückten ihr Mitgefühl aus, darunter US-Präsident Joe Biden. Papst Franziskus kondoliert in einem Telegramm an Steinmeier.
In Deutschland stellte sich vielerorts die Frage, wie sicher Weihnachtsmärkte sind. Im ZDF sagte Innenministerin Nancy Faeser (SPD) am Abend, die Länder wollten nun lageabhängig schauen, „wo müssen wir unsere Weihnachtsmärkte und wo müssen wir Polizeipräsenz nochmal verstärken, aber nur da, wo nötig“. Faeser sagte weiter: „Deswegen gehe ich davon aus, dass man auch weiter auf Weihnachtsmärkte gehen kann.“
Fast auf den Tag genau vor acht Jahren, am 19. Dezember 2016, war in Berlin ein islamistischer Terrorist mit einem entführten Lastwagen auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gerast. Dabei wurden zwölf Menschen getötet, das 13. Opfer starb 2021 an den Folgen. Mehr als 70 Menschen wurden verletzt. Der Attentäter floh nach Italien, wo er von der Polizei erschossen wurde. Die Berliner Polizei will nun ihre Präsenz auf den Berliner Weihnachtsmärkten erhöhen.
In Österreich werden ebenfalls Sicherheitsvorkehrungen bei Weihnachtsmärkten verschärft. So teilte die Stadt Linz am Samstag in einer Aussendung mit, die Besucher der Standl am Hauptplatz, am Volksgarten sowie des Marktes vor dem Neuen Dom durch „technische Sicherungsmaßnahmen“ zu schützen. Von der Wiener Polizei hieß es, die umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen würden „auf hohem Niveau intensiviert“. Ähnlich äußerte sich das Innenministerium.