Vor allem mit Büchern wie „Anklage Vatermord“ (2002), „Der Tote im Bunker“ (2004) und „Kaiser von Amerika“ (2010) habe er als Mahner gegen das Vergessen neue Maßstäbe in der Erinnerungskultur gesetzt, würdigte ihn der Residenz Verlag. Pollacks Werke, in denen er sich auch als Kenner der osteuropäischen Geschichte zu profilieren wusste, wurden in 14 Sprachen übersetzt. Im Mai erscheint laut Residenz Verlag unter dem Titel „Zeiten der Scham. Reportagen und Essays“ ein weiteres Buch, das Reportagen und Essays der vergangenen Jahre versammelt und zwei neue Texte Pollacks beinhaltet, die er trotz schwerer Krankheit noch verfasst hat.
Pollack wurde am 23. Mai 1944 im oberösterreichischen Bad Hall geboren und lebte in Wien und im Burgenland. Der Autor absolvierte zuerst eine Ausbildung als Bau- und Möbeltischler und danach ein Studium der Slawistik und osteuropäischen Geschichte in Wien und Warschau. 1987 bis 1998 war er Korrespondent des deutschen Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“, ab 1998 arbeitete er als freier Autor.
Pollack machte sich u.a. als Übersetzer des polnischen Autors und Journalisten Ryszard Kapuscinski einen Namen. Auch in seinem literarischen Schaffen stand Polen immer wieder im Zentrum, etwa in Büchern wie „Galizien“ (2001), „Von Minsk nach Manhattan, Polnische Reportagen“ (2006) und „Sarmatische Landschaften – Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland“ (2006).
In „Anklage Vatermord“ rekonstruierte er einen Justizskandal der 20er-Jahre, in „Der Tote im Bunker“ (2004) begab er sich auf die Suche nach dem eigenen Vater, der als hochrangiger Gestapo-Beamter und SS-Offizier an maßgeblicher Stelle an der NS-Vernichtungsmaschinerie mitgewirkt hatte. 2010 schilderte Pollack in „Kaiser von Amerika“ die Massenflucht von Juden, Polen und Ukrainern aus Galizien zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, 2016 erschien ein Sammelband mit seinen Essays („Topografie der Erinnerung“).
In seinem Bericht „Die Frau ohne Grab“ (2019) erzählte er über das Schicksal seiner Großtante Pauline, die im Sommer 1945 als 70-Jährige von jugoslawischen Partisanen in ihrem Heimatort Tüffer in der damaligen Untersteiermark verhaftet, und in ein Internierungslager gebracht wurde. Bald darauf starb sie. Ihr Grab wurde nie gefunden.
Gegenüber der APA erklärte Pollack, der bereits vor zwölf Jahren mit einer vernichtenden Krebsdiagnose konfrontiert wurde, bei einem Besuch im vergangenen Jahr, dass er in der Folge sein Schicksal sofort angenommen habe: „Resignation und Verzweiflung gehören nicht zu mir. Mich interessiert die Krankheit auch nicht.“ Dementsprechend arbeitete der umtriebige Autor auch weiter.
So hielt er im Juni 2024 etwa unter dem Titel „The Long Shadow of a Sinister Past. A Never-Ending Story“ einen Vortrag am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) über Österreichs jahrzehntelange Weigerung, das Ausmaß seiner Mitschuld am Nationalsozialismus anzuerkennen. Pollack ging darin auch der heute höchst brisanten Frage nach, ob diese Weigerung das Land anfälliger für die Verlockungen des Rechtspopulismus gemacht hat.
„Pollacks Bücher dokumentieren Geschichte und verzichten großteils auf Fiktion“, hieß es in der Jurybegründung des 2007 an ihn verliehenen Ehrenpreises des österreichischen Buchhandels. „Sein Blick auf Gewesenes erreicht die Leser somit unverfälscht und direkt. Er gibt Zeugnis von der Vergangenheit und weist damit einen Weg in eine Zukunft, die vom Verständnis füreinander geprägt ist.“
Im Sommer des Vorjahres wurde Pollack mit dem Würdigungspreis für Publizistik der Stadt Wien in „Anerkennung für ein literarisch anspruchsvolles Lebenswerk, insbesondere in seiner ethischen Dimension“ geehrt. Seine zahlreichen Auszeichnungen umfassen auch den Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzungen (2003), den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung (2011), den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik oder den Johann-Heinrich-Merck-Preis (beide 2018). Dessen Jury hob Pollacks Beschäftigung mit „den vergessenen und verdrängten Ereignissen in der mitteleuropäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ hervor. „Wie sehr Geschichte eine Landschaft formt und dadurch wiederum das Leben der Menschen, die in ihr wohnen, wird durch die Essays von Martin Pollack begreifbar.“
Der ausgewiesene Osteuropa-Kenner äußerte sich immer wieder auch zu den jüngsten politischen Veränderungen und zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine: „Es gibt wenig Grund zum Optimismus. Die Lage ist finster“, sagte er zur APA, angesichts der Lage in der Ukraine, im Nahen Osten und der politischen Stimmungslage in der EU.
„Mit Martin Pollack ist ein großer Schriftsteller und Chronist von uns gegangen. Seine Kunst und sein Anspruch waren es, Zeugnis von der europäischen Geschichte und ihren Völkern abzulegen“, reagierte Bundespräsident Alexander Van der Bellen in einer Aussendung. Dabei habe er gerade die düsteren Kapitel nicht ausgelassen. „Wir werden seine Bücher mehr denn je brauchen, wenn wir begreifen wollen, was europäische Vielfalt bedeutet.
Kulturminister Werner Kogler (Grüne) würdigte Pollack als Persönlichkeit, die „sich immer wieder zur rechten Zeit kritisch zu Wort gemeldet hat“. Seine Bücher nehmen „nicht nur Historisches in den Blick, sondern sie machen durch die Haltung, Genauigkeit und literarische Kraft ihres Autors auch Mut für die Zukunft“. Wiens Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler (SPÖ) betonte, mit Pollack „hat Österreich nicht nur einen herausragenden Schriftsteller und Publizisten verloren, sondern auch eine einzigartige Stimme, die sich unermüdlich mit Geschichte, Erinnerung und Menschlichkeit auseinandergesetzt hat.“
Pollack „war ein konsequenter Verbündeter der Demokratiebewegungen“, hielt die IG Autorinnen Autoren fest. „Er war einer von denen, die der österreichischen Gegenwartsliteratur ihren großen Ruf verschafft haben“, schrieb deren Geschäftsführer Gerhard Ruiss. „Vom Individuellen, ja Privaten zum großen Ganzen und retour: Martin Pollack bewegte sich nie auf den Hauptstraßen der Erinnerung, die Umwege waren es, denen er seine Aufmerksamkeit widmete“, hieß es seitens des Zsolnay Verlages. In der Rückschau dürfe man auch „den streitbaren Zeitgenossen und -kritiker“ nicht außer Acht lassen, so Verlagsleiter Herbert Ohrlinger.