Das Gericht begründete sein einstimmig getroffenes Urteil damit, dass Yoon das Kriegsrecht nicht hätte verhängen dürfen, weil es keine nationale Krise gab. Außerdem habe er gegen das Gesetz verstoßen, als er Soldaten zur Nationalversammlung beorderte, um eine Aufhebung des Kriegsrechts durch das Parlament zu verhindern.
Yoon selbst bat kurz nach der Gerichtsentscheidung bei der Bevölkerung um Entschuldigung. „Es tut mir aufrichtig leid und bricht mir das Herz, dass ich nicht in der Lage war, Ihre Erwartungen zu erfüllen“, erklärte er.
Oppositionsführer Lee Jae-myung begrüßte die Entscheidung des Gerichts. Yoon habe die Verfassung „zerstört“, sagte Lee, der Umfragen zufolge bei Neuwahlen als Favorit gilt. Die vorgezogene Wahl muss nun laut Verfassung innerhalb von 60 Tagen stattfinden. Ein Datum soll in den kommenden Tagen verkündet werden. Laut südkoreanischen Medien ist eine Abstimmung in der ersten Juniwoche wahrscheinlich.
Südkoreas konservative Regierungspartei hat die vom Verfassungsgericht bestätigte Amtsenthebung des entmachteten Präsidenten Yoon akzeptiert. „Obwohl es bedauerlich ist, akzeptiert die PPP (People Power Party) die Entscheidung des Verfassungsgerichts und respektiert sie demütig“, sagte Kwon Young-se, Interimsvorsitzender der rechtskonservativen Partei. Han Duck-soo, der derzeit übergangsweise die präsidialen Amtsgeschäfte leitet, versprach in einer ersten Stellungnahme, er werde alles dafür tun, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten.
Zur Urteilsverkündung am Freitag war die Polizei in größter Alarmbereitschaft. Beamte umstellten das Gerichtsgebäude mit einem Ring aus Fahrzeugen und stationierten Spezialeinheiten in der Nähe. Abgeordnete der Opposition applaudierten, als das ihren Worten nach „historische“ Urteil fiel, während Parlamentarier aus Yoons Partei den Gerichtssaal verließen.
Gegnerinnen und Gegner des entmachteten Präsidenten versammelten sich im Freien, um eine Live-Übertragung der Urteilsverlesung zu verfolgen. „Als die Entlassung verkündet wurde, war der Jubel so laut, dass es sich angefühlt hat, als würde die Kundgebung mitgerissen“, sagte die 25-jährige Demonstrantin Kim Min-ji. „Wir weinten Tränen und riefen, dass wir, die Bürger, gewonnen haben!“
Tränen der Trauer und Wut wurden dagegen unter einigen Anhängern des abgesetzten Präsidenten vergossen, zu denen rechtsgerichtete YouTuber und Menschen aus religiösen Kreisen gehören. Sie hatten sich vor Yoons Wohnsitz versammelt. Als das Urteil bekannt wurde, stießen einige von ihnen Flüche aus, auch Todesdrohungen gegen die Richter waren zu hören. Ein Yoon-Unterstützer, der versucht hatte, ein Polizeiauto mit einem Stock anzugreifen, wurde nach Angaben der Polizei festgenommen.
Während Südkorea in den vergangenen Wochen auf das Urteil gewartet hatte, war es immer wieder zu Protesten von Anhängern und Gegnern des entmachteten Präsidenten gekommen. Mindestens zwei Unterstützer hatten sich aus Protest über Yoons Absetzung selbst angezündet und waren gestorben.
Die seit vier Monaten anhaltende Staatskrise begann in den Abendstunden des 3. Dezembers, als Yoon überraschend und kurzfristig das Kriegsrecht ausrief. Hintergrund war ein Budgetstreit mit den Oppositionsparteien, die seine Gesetzesvorhaben weitgehend blockiert hatten. Yoon begründete seine Kriegsrechtsentscheidung unter anderem mit dem Vorwurf, die linke Opposition agiere staatsfeindlich und sei von kommunistischen Kräften unterwandert. Beweise gibt es dafür nicht.
Kurz nach Verhängung des Kriegsrechts schickte der 64 Jahre alte Staatschef Soldaten zum Parlament in Seoul, um das Gebäude vollständig abzuriegeln. Laut den Aussagen mehrerer hochrangiger Militärs und Polizeibeamter befahl Yoon den Soldaten zudem, gezielt Abgeordnete zu verhaften. Yoon selbst bestreitet den Vorwurf. Trotz der Militärpräsenz gelang es den Parlamentariern, sich während jener Ausnahmesituation in der Nationalversammlung einzufinden und in einer hastig einberufenen Abstimmung das wenige Stunden zuvor verhängte Kriegsrecht wieder aufzuheben.
Zurzeit führt Ministerpräsident Han Duck-soo übergangsweise die Amtsgeschäfte des Präsidenten. Han wurde zwischenzeitlich ebenfalls nach einer Abstimmung in der Nationalversammlung suspendiert, konnte nach einem Urteil des Verfassungsgerichts im März aber wieder ins Amt zurückkehren.
Die anhaltende Staatskrise hat nicht nur die politische Reputation der demokratischen Republik Südkorea beschädigt, sondern auch die Wirtschaft stark ausgebremst. Die Zentralbank in Seoul korrigierte in den vergangenen Monaten ihre Wachstumsprognose für das Bruttoinlandsprodukt wiederholt nach unten, was maßgeblich mit den politischen Ereignissen zusammenhängt. Ausländische Unternehmen hielten sich aufgrund des Machtvakuums und fehlender Planbarkeit mit Investitionen stark zurück.
Ob das Land mit dem höchstrichterlichen Urteil nun wieder in ruhigere Fahrwasser zurückkehren wird, muss sich noch zeigen. Zum einen haben sich die politischen Gräben in der ohnehin polarisierten Gesellschaft Südkoreas zuletzt immer weiter vertieft.
Für den ehemaligen Staatsanwalt Yoon sind die juristischen Auseinandersetzungen auch nach dem jüngsten Urteil nicht beendet. Er muss sich weiterhin in einem Strafprozess verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm unter anderem Aufruhr und Machtmissbrauch vor. Im Falle eines Schuldspruchs würde Yoon eine lebenslängliche Haftstrafe oder sogar die Verhängung der Todesstrafe drohen. Allerdings sind in Südkorea seit 1997 keine Hinrichtungen mehr durchgeführt worden.