Bei der Frage um die Aufnahme von minderjährigen Flüchtlingen von der griechischen Insel Lesbos blieb die ÖVP in letzter Zeit hart. Dabei verwies man vor allem auf die Behauptung, dass Österreich alleine im Jahr 2020 5.000 minderjährige Flüchtlinge aufgenommen hätte. Je nach Politiker variieren die Angaben leicht, der Tenor ist aber derselbe: Österreich tue bereits genug für Flüchtlinge. Auch im EU-Vergleich soll Österreich laut Innenministerium bei Schutzgewährungen von unter 18-Jährigen auf Platz eins liegen.
Zu überprüfende Information: Österreich hat im Jahr 2020 rund 5.000 (unbegleitete oder begleitete) minderjährige Flüchtlinge aufgenommen bzw. ihnen Schutz gewährt. Österreich liegt im EU-Vergleich bei der Schutzgewährung von unter 18-Jährigen auf Platz eins.
Einschätzung: Laut Innenministerium wurde 2020 rund 5.730 minderjährigen Flüchtlingen Schutz gewährt. Diese Summe setzt sich allerdings nicht nur aus den Asylanträgen 2020 zusammen, sondern auch aus seit Jahren laufenden Asylverfahren. Inwiefern diese Minderjährigen unbegleitet waren, lässt sich aufgrund fehlender Daten nicht sagen. Asylorganisationen kritisieren das Anführen dieser Zahl als Rechtfertigung gegen neue Aufnahmen sowie die dürftige Datenlage und mangelnde Transparenz.
Überprüfung: Das Argument mit den minderjährigen Flüchtlingen ist nicht neu. Bevor sich die Zustände im Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos im Dezember 2020 durch den Winter weiter verschlimmerten, sprach Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) bereits im September davon, dass Österreich alleine in diesem Jahr 3.700 Kinder aufgenommen habe und daher keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen würde. Zu dieser Zahl gibt es bereits einen APA-Faktencheck.
Nun sagte Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) zuletzt in der ZIB 2 (Video)und im Kurier, dass Österreich im Jahr 2020 5.000 unbegleitete Minderjährige aufgenommen habe. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) sagte laut „Die Presse“ und APA, dass Österreich rund 5.000 minderjährigen Flüchtlingen Schutz gewährt habe.
Schutzgewährungen wie zum Beispiel subsidiärer Schutz sind rechtlich definierte Begriffe. Bei „Aufnahmen” handelt es sich eher um einen umgangssprachlichen Terminus, bei dem nicht ganz klar ist, was darunter zu verstehen ist.
Nach mehrmaliger APA-Anfrage konkretisierte das Innenministerium: Gemeint seien hier Schutzgewährungen, nicht Asylantragszahlen.12.630 Schutzgewährungen seien von Jänner bis Dezember 2020 erfolgt. Davon rund 5.730 bei Minderjährigen. Die Bezeichnung „Minderjährige“ beziehe sich auf alle Personen unter 18 Jahren, also sowohl auf begleitete als auch auf unbegleitete Minderjährige.
Dass die Schutzgewährungen für Minderjährige nicht nur heurige Anträge umfasst, zeigt ein Blick auf die Zahlen bei Asylanträgen im Jahr 2020: 14.192 Anträge auf internationalen Schutz seien von Jänner bis Dezember gestellt worden, davon aber nur 5.522 Asylanträge von Minderjährigen. Davon wiederum seien 1.467 Asylanträge auf UMF (Anm. unbegleitete minderjährigen Flüchtlinge) entfallen.
Das Innenministerium präzisierte auf Anfrage auch den EU-Vergleich. Hier wurde laut der ZIB 1(Video) im Dezember behauptet, dass Österreich in der EU bei der Schutzgewährung von unter 18-Jährigen auf Platz eins liege. Wie das BMI der APA mitteilte, beziehe sich dies auf den Zeitraum vom Jahr 2015 bis September 2020 bei Schutzgewährungen Minderjähriger in 1. Instanz und bezogen auf 100.000 Einwohner innerhalb der EU.
Die Daten von Eurostat bestätigen dies (Datensatz jährlich, Datensatz vierteljährlich). Aktuell gilt dies jedoch nicht. Im Jahr 2019 und bis September 2020 lag Österreich nicht mehr an erster Stelle, sondern wurde von Griechenland, Deutschland und Luxemburg überholt.
Asylorganisationen kritisieren die Argumente der ÖVP-Politiker, mit denen sie gegen eine Aufnahme von Flüchtlingen aus Lesbos argumentieren. Auch mit der Datenlage sind sie nicht zufrieden.
Herbert Langthaler von der Asylkoordination sagte bereits in der ZIB 1 (Video) im Dezember 2020 zu den 5.000 unter Schutz gestellten Minderjährigen: „Da geht es um einerseits eben hier geborene, andererseits Familien-Zusammengeführte und drittens um Leute, die schon lange im Asylverfahren sind, also die gar nicht heuer gekommen sind“, so Langthaler.
Gegenüber der APA bemängelt er, dass es zu den Anerkennungen von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen keine Daten gebe. Ein Großteil der Kinder würde in Folge der schlechten Bedingungen in Österreich verschwinden. Über deren Verbleib sei nichts bekannt. Darüber berichtete auch der „Standard”.
Dass das Innenministerium bei den öffentlichen Daten zu Schutzgewährungen weder das Alter anführe, noch angebe, ob es sich etwa um Geburten oder Familienzusammenführungen handle, bezeichnet er als „Verschleierungstaktik”. Das BMI liefere „sehr wichtige Zahlen“, etwa für das AMS oder die Sozialämter, nicht. Exakte Aussagen ließen sich daher nur schwer treffen.
Auch Christoph Riedl von der Diakonie kritisierte gegenüber der APA die fehlenden Daten beim Innenministerium. Das sei „unredlich”. Da insgesamt bis Oktober 2020 nur 1.160 unbegleitete Minderjährige einen Asylantrag gestellt hätten, sei es unmöglich, dass 5.000 unbegleitete Minderjährige Schutz gewährt bekommen hätten. Die aller wenigsten unbegleiteten Minderjährigen würden in Österreich Schutz bekommen.
Dass insgesamt 5.000 Minderjährigen Schutz gewährt wurde, könne hingegen sein. Allerdings sei bei dieser Zahl „wirklich alles, alles dabei.“ Sowohl begleitete und unbegleitete Minderjährige, als auch Nachgeborene: „Alle, die irgendwie zum Zeitpunkt der Entscheidung unter 18 waren“, fasst Riedl zusammen. Viele würden den Asylbescheid allerdings erst in der Volljährigkeit erhalten.
Riedl hält es für wahrscheinlich, dass der überwiegende Teil bereits in den Jahren 2015 und 2016 eingereist ist und jetzt einen Asylbescheid bekam. Darauf würden sehr niedrige Asylantragszahlen in den letzten Jahre hinweisen. Das zeigt auch die Asylstatistik von 2019 deutlich. Er kritisiert daher den Verweis auf die Zahl der Schutzgewährungen im Bezug auf die aktuelle Situation: „Wenn das belegen soll, wie suggeriert wurde, dass Österreich heuer schon 5.000 Kinder aufgenommen hat und man deswegen aus Lesbos keine Kinder mehr aufnehmen braucht, dann muss man sagen, das ist einfach falsch.“
Asylverfahren seien eine völkerrechtliche und menschenrechtliche Verpflichtung. Das habe aber „überhaupt gar nichts mit der humanitären Verantwortung zu tun, in einer Notsituation Menschen freiwillig aufzunehmen“. Über das Resettlement-Programm der UNHCR etwa habe Österreich in den letzten drei Jahren gar nichts mehr gemacht. Dieses läuft zusätzlich zu den normalen Asylverfahren, wie sie in westlichen Demokratien üblich sind. Darüber berichtete auch der ORF bzw. die APA.
Den vom Innenministerium durchgeführten EU-Vergleich könne die Diakonie mangels Daten nicht nachvollziehen. Riedl sieht so einen Vergleich aber generell aufgrund mangelnder Vergleichbarkeit beim Aufenthaltsrecht und geringer Aussagekraft kritisch. Von der Diakonie gibt es bereits zwei Faktenchecks (1,2) zu den Themen.
Wenn Sie zum Faktencheck-Team Kontakt aufnehmen oder Faktenchecks zu relevanten Themen anregen möchten, schreiben Sie bitte an faktencheck@apa.at