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blog / Donnerstag 18.03.21

APA Check Avatar Inzidenz von Sinusthrombose umstritten

APA/dpa/Symbolbild

In mehreren Ländern wurde die Impfung mit dem Corona-Impfstoff von AstraZeneca vorübergehend gestoppt. Grund dafür sind beobachtete Fälle von Hirnvenenthrombosen, die nach der Verabreichung des Impfstoffes aufgetreten sind. Es gilt abzuklären, ob der Impfstoff kausal für die Erkrankungen verantwortlich sein kann. In diesem Faktencheck wollen wir uns aufgrund der medialen Aufmerksamkeit und des hohen Interesses in der Bevölkerung ansehen, wie oft Thrombosen in der Bevölkerung vorkommen und wie hoch das Thrombose-Risiko bei einer Covid-Erkrankung ist, bevor die EMA die Ergebnisse ihrer Untersuchung am Donnerstag veröffentlicht (1).

Zu überprüfende Behauptung: Die nach der Impfung von AstraZeneca beobachteten Fälle von Thrombosen sind in ihrer Anzahl derartig hoch, dass sie deutlich über der Inzidenz in der Durchschnittsbevölkerung liegen.

Einschätzung: Dies wird derzeit von der Wissenschaft und öffentlichen Stellen überprüft. Die Inzidenz von Sinusthrombosen wird teilweise mit drei bis fünf Fällen pro Millionen Einwohner im Jahr angegeben. Dieser Wert ist allerdings umstritten, Studien weisen darauf hin, dass er deutlich höher sein könnte. Mit einer Covid-Erkrankung geht ein deutlich erhöhtes Thrombose-Risiko einher, vor allem bei schweren Verläufen.

Überprüfung:

Anfang der Woche wurde in mehreren europäischen Ländern wie Deutschland, Frankreich, Italien oder Spanien die Impfung mit dem Impfstoff von AstraZeneca vorübergehend gestoppt, wie mehrere Medien, darunter Der Kurier (2) oder Der Standard (3) berichteten. In Deutschland wurde die Aussetzung mit einer Empfehlung des Paul-Ehrlich-Instituts (4) begründet, wonach eine „auffällige Häufung einer speziellen Form von sehr seltenen Hirnvenenthrombosen (Sinusvenenthrombosen) in Verbindung mit einem Mangel an Blutplättchen (Thrombozytopenie) und Blutungen in zeitlicher Nähe zu Impfungen mit dem COVID-19-Impfstoff AstraZeneca“ beobachtet worden sei.

Dem PEI zufolge (5) sei es bei sechs der sieben betroffenen Fälle mit einer Hirnvenenthrombose zu einer speziellen und schweren Form einer Sinusvenenthrombose gekommen. Die Anzahl dieser Fälle nach der Impfung sei statistisch gesehen höher als in der Bevölkerung ohne Impfung, wie man in einer Analyse herausgefunden habe. Unter den bisherigen rund 1,6 Millionen Impfungen in Deutschland wäre nur ein Fall zu erwarten gewesen. Deshalb habe man ein vorläufiges Aussetzen zu weiteren Prüfungen des Impfstoffes empfohlen. Nun wird unter Berücksichtigung der Charakteristika der geimpften Gruppe und im Vergleich mit anderen Ländern erörtert, ob es tatsächlich einen kausalen Zusammenhang zur Impfung geben könnte.

Die Inzidenz einer Sinusvenenthrombose wird auf der medizinischen Informationsplattform AMBOSS (6) mit drei bis fünf Fällen pro einer Million Menschen in einem Jahr angegeben. Für Deutschland bedeute dies rund 240 bis 300 Fälle pro Jahr. Ein Ärzteblatt-Artikel (7) weist aber darauf hin, dass dieser Inzidenzwert umstritten ist und viel höher liegen könnte. 1,6 Millionen AstraZeneca-Geimpfte bedeuteten in Deutschland etwa vier Fälle pro einer Million Geimpfter seit Start der Impfungen Anfang Februar, was deutlich höher als der vorhin genannte Wert wäre. Im Artikel wird jedoch betont, dass das Sterbe-Risiko für Covid-19 vergleichsweise deutlich höher pro einer Million Infizierter liege und eine Infektion ein hohes Thrombose-Risiko mit sich ziehe, speziell Sinusvenenthrombosen betreffend.

Es gibt auch Studien, die auf eine höhere Inzidenz an Sinusvenenthrombosen in der Bevölkerung hindeuten. Im Jahr 2016 ermittelte eine Studie (8) einen Wert von 15,7 Fällen pro einer Million Personen in der australischen Stadt Adelaide. Eine Studie aus den Niederlanden (9)k am 2012 auf eine Inzidenz von 1,32 unter 100.000 Personen im Jahr. Eine der aktuellsten Studien (10) zur Inzidenz von Sinusvenenthrombosen kommt aus Norwegen und ermittelte sogar einen Wert von 17,5 Fällen pro 100.000 Personen pro Jahr.

Auch in Österreich sorgte der Fall zweier Krankenschwestern für Aufregung in Zusammenhang mit der Impfung. Eine 49-Jährige verstarb in zeitlicher Nähe zur Corona-Impfung in Folge einer schweren Gerinnungsstörung, ihre 35-jährige Kollegin entwickelte eine Lungenembolie, wie etwa salzburg24 (11) berichtete. In Österreich wurde vorerst aber kein genereller Impfstopp über AstraZeneca verhängt, sondern nur die entsprechende Charge ausgesetzt. Eine Obduktion soll für mehr Klarheit sorgen.

Laut einer Aussendung (12) des Bundesamts für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) gebe es „keinen Hinweis auf einen kausalen Zusammenhang mit der Impfung“. Der kausale Zusammenhang sei anhand der vorliegenden klinischen Daten nicht feststellbar, „da insbesondere thrombotische Ereignisse nicht zu den bekannten oder typischen Nebenwirkungen des betreffenden Impfstoffes zählen“.

Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) vermeldete noch am 11. März (13), keine Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen aufgetretenen Blutgerinnseln und der Corona-Impfung zu sehen. Die Anzahl thromboembolischer Ereignisse liege mit 30 Fällen unter fünf Millionen mit AstraZeneca geimpften Personen bis zum 10. März nicht höher als in der Durchschnittsbevölkerung. Auch AstraZeneca selbst wies in einer Pressemitteilung am 14. März (14) darauf hin, dass bisherige registrierte Fälle von tiefen Venenthrombosen und Lungenembolien bei mittlerweile 17 Millionen Geimpften unter dem in der Durchschnittsbevölkerung erwartbaren Wert lägen.

Thrombosen sind Blutgerinnsel, die Blutgefäße verstopfen und damit zu potenziell lebensbedrohlicher Mangeldurchblutung oder Schädigungen von Organen führen können, wie auf einer Informationsseite der MedUni Wien (15) erklärt wird. Werden diese Blutgerinnsel über den Blutkreislauf in andere Körperregionen verschleppt, spricht man von einer Embolie.

Laut dem Informationsportal der Gesundheitsveranstaltungsreihe MINI MED STUDIUM (16) erkranken pro Jahr unter 100.000 Menschen etwa 90 bis 130 an einer akuten tiefen Venenthrombose (TVT). Die Österreichische Gesellschaft für Hämatologie & Medizinische Onkologie (OeGHO) gibt auf ihrer Website (17) für die Venenthrombose einen Wert von zwei Erkrankungen unter 1.000 Menschen pro Jahr an. Eine derartige Erkrankung sei mit Ausnahme von Thrombosen im Hirn oder im Bauch selten lebensbedrohlich, eine mögliche Komplikation in Form einer Lungenembolie verlaufe aber bei einem Fünftel aller Patienten tödlich. Tumorpatienten seien besonders anfällig für Thrombosen.

Thomas Gary, Präsident der Gesellschaft für Internistische Angiologie (ÖGIA), bestätigte der APA (18) den hohen Wert an Thrombosen und Lungenembolien in der Bevölkerung. Unter 1.000 Menschen gebe es im Jahr eine Erkrankung. Damit gäbe es im Jahr etwa 8.000 Fälle in Österreich.

Auf diese Zahl wies die ÖIAG auch schon im Jahr 2018 hin, wie sich etwa über einen Kurier-Artikel (19) belegen lässt. 4.000 Menschen würden demnach pro Jahr an einer Lungenembolie sterben. Bei Beinvenenthrombosen rechne man mit 150 Erkrankungen pro 100.000 Einwohner im Jahr, bei Lungenembolien mit 100 pro 100.000 Einwohnern.

Gary sprach gegenüber der APA bezugnehmend auf die aktuelle Lage auch von einem „Schutz vor thrombotischen Ereignissen durch die Impfung“. Er spricht damit den Sachverhalt an, dass gerade mit einer Covid-19-Erkrankung ein hohes Thrombose-Risiko einhergeht. Schon im April 2020 untersuchte eine Studie (20) 184 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen und stellte in 31 Prozent aller Fälle Komplikationen mit Thrombosen fest und das, obwohl allen Personen vorbeugend eine Thromboseprophylaxe verabreicht worden war.

Auch die MedUni Wien verwies im Oktober 2020 (21) auf eine Untersuchung der Universitätsklinik für Innere Medizin I, wonach Patienten, die zwar nicht auf einer Intensivstation, aber stationär betreut werden mussten, ein Risiko von fünf bis elf Prozent hätten, eine Beinvenenthrombose oder eine Lungenembolie zu erleiden. Bei Patienten mit schwerem Verlauf steige dieses Risiko auf 18 bis 28 Prozent. Die Untersuchung basiert auf einer Meta-Analyse von 66 Studien mit insgesamt über 28.000 Patienten, denen teilweise eine Thromboseprophylaxe verabreicht worden war. Dennoch lag die Prävalenz von venösen Thromboembolien (VBT) bei 14 Prozent. Das Risiko bei Covid-19-Patienten sei auch abseits der Intensivstationen höher als bei hospitalisierten PatientInnen mit anderen internistischen Erkrankungen, heißt es in der Untersuchung.

APA-Faktencheck kontaktierte mehrere Experten zu diesem Thema. Alle drei sahen den Impfstopp aufgrund der beobachteten Thrombosen kritisch.

Frau Prof. Dr. Brigitte Schwarzer-Daum, Leiterin Qualitätsmanagement an der Klinischen Pharmakalogie der MedUni Wien und Mitglied in den beiden EMA-Komitees COMP und SAWP, hält den Impfstopp derzeit nicht für gerechtfertigt. Zum jetzigen Zeitpunkt sei kein Zusammenhang von AstraZeneca mit den Thrombosen festgestellt worden. Sie wolle aber das für Donnerstag erwartete Entscheidung des EMA-Ausschusses für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz (PRAC) abwarten.

Auch Herr Prof. Dr. Michael Freißmuth, Leiter des Zentrums für Physiologie und Pharmakologie an der MedUni Wien, hält die Aussetzung der Impfung mit AstraZeneca zum jetzigen Zeitpunkt nicht für gerechtfertigt.  Dem momentan fraglichen Risiko der Impfung stehe ein reales Risiko von COVID-19 Toten gegenüber. Je länger das Coronavirus in einer
nicht-immunisierten Bevölkerung zirkuliere, „desto wahrscheinlicher wird es, dass mutierte Versionen akkumulieren“, so Freißmuth. Der derzeitige Vorgang nähme weitere Tote als „schicksalhaft in Kauf“, die man mit einer Durchimpfung schützen könnte.

Für Herrn Prof. Dr. Jörg Striessnig, Leiter der Abteilung Pharmakalogie und Toxologie am Institut für Pharmazie der Uni Innsbruck, ist die derzeitige Entscheidung über eine Aussetzung des Impfstoffes eher politisch als medizinisch zu sehen. Die medizinische Entscheidung werde die EMA treffen, wobei hier entscheidend sei, die Höhe des zusätzlichen Risikos abzuschätzen und bestehende Risikofaktoren für Thrombosen zu identifizieren, zum Beispiel Vorerkrankungen. „Delikat wird dann die Entscheidung, ob das Nutzen-Risiko Profil positiv bleibt, also mehr individueller (und gesellschaftlicher) Nutzen diese (vermutlich) sehr seltenen Nebenwirkungen überwiegt“, so Striessnig.

Das Problem der COVID-Impfstoffe sei, dass der Prozess der Datengewinnung durch die Pandemiesituation sehr rasch erfolgen muss und im Mittelpunkt des Interesses aller BürgerInnen stehe. „Diesem Prozess sollte man die Zeit geben (aber auch nicht mehr!), die es unbedingt braucht, um genügend Daten für eine, dem aktuellen Stand der Information angemessene, Entscheidungsgrundlage zu schaffen. Und dann sollte gemeinsam eine Entscheidung getroffen und umgesetzt werden“, so der Pharmakologe.

Quellen:
(1) ORF zu EMA-Veröffentlichung: http://go.apa.at/4nDoucs9

(archiviert: https://archive.is/gZah8)

(2) Kurier zu Impfstopp: http://go.apa.at/sQ8BkeOO (archiviert: https://archive.is/CMx2U)

(3) Der Standard zu Impfstopp: http://go.apa.at/IWRMV7vK (archiviert: https://archive.is/sM8NX)

(4) Paul-Ehrlich-Institut: http://go.apa.at/9SZ1LCpC (archiviert: https://archive.is/goOWC)

 

(5) PEI: http://go.apa.at/VY6aEJiA (archiviert: https://perma.cc/8UYF-AJQ8)

 

(6) AMBOSShttp://go.apa.at/6FtVcdXr (archiviert: https://archive.is/vv3IP)

 

(7) Ärzteblatt: http://go.apa.at/LhYNr9Gn (archiviert: https://archive.is/ZAZMd)

 

(8) Adelaide-Studie: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/27435401/ (archiviert: https://archive.is/1up04)

 

(9) Niederlande-Studie: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/22996960/ (https://archive.is/pjn0i)

 

(10) Norwegen-Studie: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32883194/ (archiviert: https://archive.is/lzWPv)

 

(11) salzburg24: http://go.apa.at/yQaQ2EWc (archiviert: https://archive.is/ps813)

 

(12) BASG: http://go.apa.at/vobEMU6j (archiviert: https://archive.is/Ie3ex)

 

(13) EMA: http://go.apa.at/9YorEuap (archiviert: https://archive.is/fHvCa)

 

(14) AstraZeneca: http://go.apa.at/llgGw3v5 (archiviert: https://archive.is/bDnq2)

 

(15) MedUni Wien: http://go.apa.at/sfHgA6bE (archiviert: https://archive.is/ngK8h)

 

(16) MINI MED STUDIUM: http://go.apa.at/7JCIhvgq (archiviert: https://archive.is/WFIzF)

 

(17) OeGHO: http://go.apa.at/aZGekjwk (archiviert: https://archive.is/kq9CH)

 

(18) Interview mit Thomas Gary auf APA-Science: https://science.apa.at/power-search/6038956020385832406 (archiviert: https://archive.is/PSTGn)

 

(19) Kurier-Artikel aus dem Jahr 2018: http://go.apa.at/uMDtwfid (archiviert: https://archive.is/cPrVD)

 

(20) Thrombose-Studie April 2020: http://go.apa.at/MAIlaiH9 (archiviert: https://archive.is/venh2)

 

(21) Studie MedUni Wien: http://go.apa.at/B4St2QxH (archiviert: https://archive.is/OSHeu)

 

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Florian Schmidt/Anton Porsch