Nach dem mutmaßlichen Sabotageakt auf die beiden Erdgas-Pipelines Nord Stream 1 und 2 in der Ostsee gab es zahlreiche Schuldzuweisungen. Kürzlich hieß es seitens der Ukraine sogar, Russland habe die Röhren schon beim Bau mit Sprengsätzen versehen (1). Während eine multinationale Taskforce den Lecks auf den Grund geht (2), machen allerhand Theorien die Runde in den sozialen Medien.
Manch einer meint, die Wahrheit würde bewusst vor der Öffentlichkeit zurückgehalten. „Jedes Flugzeug und Schiff wird mit Radar und ähnliches überwacht. Tut nicht so als ob ihr nicht wisst, wer die Pipeline zerstörte!“, heißt es etwa in einem Posting (3).
Einschätzung: Dass Flugzeuge und Schiffe verfolgt werden können müssen, ist zwar nicht falsch. Allerdings können entsprechende Systeme vom Kapitän eines Schiffes oder Flugzeuges auch deaktiviert werden. Damit werden die Objekte für gängige Trackingsysteme „unsichtbar“.
Überprüfung: Sowohl in der Schifffahrt als auch in der Luftfahrt gibt es verschiedene Systeme, um die Positionen von Objekten zu verfolgen. Sogenannte ADS-B-Sender (4) gehören seit 2020 in der zivilen Luftfahrt der USA zur Pflichtausstattung jedes zivilen Flugzeuges (5), in der EU für Flugzeuge über 5,7 Tonnen oder einer Fluggeschwindigkeit von umgerechnet über 463 Kilometern pro Stunde (6).
Diese Sender zählen zur Gruppe der Sekundärradargeräte, bei denen im Gegensatz zur Ortung über ein klassisches Radargerät nicht nur passive Echos ausgewertet werden, sondern das Flugzeug auch aktiv Signale mit seinen Positionsdaten sendet (7). Die Daten werden über Navigationssatelliten bezogen und bis zu mehrere hundert Kilometer weit gesendet.
ADS-B-Empfangsgeräte können auch Privatpersonen betreiben (8). Für beliebte online-Flugtracker wie Flightradar24 ist somit ein kostengünstiger, flächendeckender Betrieb dank freiwilligen Privatpersonen möglich.
Da der Standard erst seit 2005 existiert, aber noch zahlreiche ältere Flugzeuge unterwegs sind, müssen solche Portale auch auf andere Tracking-Methoden wie Multilateration (MLAT) zurückgreifen (9). Diese Technologie wird vor allem in Nordamerika und Europa eingesetzt und funktioniert dort – abgesehen von einigen wenigen Einschränkungen – ab einer Flughöhe von etwa 1.500 Metern flächendeckend. Flugzeuge, die niedriger fliegen, können bis auf wenige regionale Ausnahmen von MLAT unbemerkt bleiben.
Aber auch mit ADS-B-Sendern oder FLARM (10) (ein hauptsächlich in Leichtflugzeugen und Drohnen eingesetztes Kollisionswarngerät) ausgestattete Objekte können vom Radar unbemerkt fliegen. Denn „all diesen Systemen ist gemeinsam, dass es kooperative Verfahren sind: sie funktionieren nur, wenn der Transponder eingeschaltet ist und funktioniert“, wie die Pressestelle der Luftraumüberwachung des Österreichischen Bundesheeres auf APA-Anfrage erklärt.
Der Betrieb von sogenannten SSR-Transpondern (Secondary Surveillance Radar) ist in den Standardised European Rules of the Air (SERA) geregelt (11). Sobald ein Flugzeug über jegliche Art von Sekundärradar-Transponder verfüge, müsse dieser zu jeder Zeit in der Luft aktiviert sein, heißt es dort in Abschnitt 13 (SERA.13001). Das hat zur Folge, dass sich etwa auch der Privatjet von Elon Musk tracken lässt (12) oder der hinter Musk zweitreichste Mensch der Welt, LVMH-Chef Bernard Arnault, seinen Privatjet aus genau diesem Grund jüngst verkaufte (13).
Laut Dennis Keßler, Fregattenkapitän bei der Deutschen Marine, gibt es vergleichbare Systeme auch für Schiffe. Mittels AIS (Automatic Identification System) lasse sich jedes Schiff verfolgen. Wie bei Flugzeugen ist das auch hier für Privatanwender möglich, etwa über Webseiten wie marinetraffic.com oder vesselfinder.com. AIS ist seit über 20 Jahren verbindlicher Standard in der internationalen Seeschiffahrt und gilt bereits ab 20 Metern Länge oder 50 Passagieren. Daten können damit entweder von Schiff zu Schiff oder zum Festland gesendet werden (14).
Allerdings würden damit „nur die aktuellen Positionen übermittelt. Die vorausgegangenen Bewegungen lassen sich nicht nachverfolgen. Und jeder Kapitän eines Schiffes oder Flugzeuges kann das System auch deaktivieren. Dann wird nichts mehr gesendet“, erklärt Keßler.
Weitere Standards sind laut Bundesheer Long-Range Identification and Tracking (LRIT) für große Distanzen und Vessel Monitoring System (VMS), ein satellitengestütztes Überwachungssystem für Fischereischiffe, in der EU bereits ab 12 Metern Länge (15). Darunter greift man auf Electronic Reporting System (ERS) zurück (16).
„Auch diese sind allesamt kooperative Verfahren, wo das Schiff aktiv Identifikations- und Positionsdaten aussendet. Zusammengefasst: Wer unentdeckt bleiben will, schaltet einfach den Transponder bzw. Transceiver ab“, schlägt das Bundesheer in dieselbe Kerbe wie der deutsche Marinevertreter.
Darüber hinaus gibt es Flugzeuge und Schiffe, bei denen berechtigtes Interesse besteht, nicht verfolgt werden zu können. Militärflugzeuge verfügen zwar über einen ADS-B-Transponder, müssen diesen aber etwa im Kriegseinsatz nicht zwingend aktivieren, wenn sie unentdeckt bleiben sollen (17). Gelegentlich werden aber selbst Tarnkappen-Flugzeuge über Radar erkannt (18), die aufgrund ihrer Bauweise und Oberflächenbeschaffenheit nicht oder nur auf kurze Distanzen von gegnerischen Radaranlagen geortet werden können sollen (19).
Bereits 2015 gab es Vorwürfe Richtung Russland, Langstreckenbomber mit abgeschaltetem Transponder als Provokation über Europa gesteuert zu haben (20). Die NATO, hieß es damals, würde das nur in Ausnahmefällen bei „Trainingseinsätzen“ machen (21).
Korrektur (24.10.2022 11:51 Uhr): Das Radar-System heißt ADS-B und nicht ADB-S. Dies wurde in den Absätzen 6, 8 und 14 korrigiert.
Quellen:
(1) Artikel auf derstandard.at: http://go.apa.at/wlJNbniq (archiviert: https://archive.ph/yN4PW)
(2) Artikel auf ndr.de: http://go.apa.at/fzRN5qCi (archiviert: https://archive.ph/xsGKT)
(3) Posting auf Facebook: http://go.apa.at/VHH9gExm (archiviert: https://perma.cc/5CFH-XGQX)
(4) Informationen zu ADS-B: http://go.apa.at/ff0zXQOF (archiviert: https://archive.ph/5IgQ3)
(5) AOPA zu ADS-B: http://go.apa.at/gpJ4Nvtk (archiviert: https://archive.ph/UEq8j)
(6) Austro Control zu ADS-B: http://go.apa.at/xQlZ3G8r (archiviert: https://archive.ph/hCKQF)
(7) Infos zu Radargeräten: http://go.apa.at/Q3dth7sS (archiviert: https://archive.ph/R58LQ)
(8) Artikel auf zdf.de zu Flugtracking: http://go.apa.at/12qkPqYW (archiviert: https://archive.ph/nGIa0)
(9) Erklärung MLAT bei flirtradar24.com: http://go.apa.at/fTZs8rDb (archiviert: https://archive.ph/6oFRc)
(10) Informationen zu FLARM: http://go.apa.at/2oimW9n4 (archiviert: https://archive.ph/qde4n)
(11) EASA-Informationen zu SERA: http://go.apa.at/jbqqtBSG (archiviert: https://perma.cc/2DJG-SU5H)
(12) Artikel auf orf.at zu Musks Privatjet: http://go.apa.at/nB4Tw4jO (archiviert: https://archive.ph/We1lw)
(13) Artikel auf futurezone.at zu Arnaulds Verkauf: http://go.apa.at/1mEwdr19 (archiviert: https://archive.ph/4Ajq4)
(14) Informationen zu AIS: http://go.apa.at/RJO02ZNR (archiviert: https://archive.ph/YsPax)
(15) IMO-Informationen zu LRIT und VMS: http://go.apa.at/hNAkSU3z (archiviert: https://archive.ph/oeDnw)
(16) Informationen zu ERS: http://go.apa.at/3pdToz4E (archiviert: https://archive.ph/IlVE3)
(17) Artikel futurezone.at zu Flugtracking: http://go.apa.at/6soT0OHG (archiviert: https://archive.ph/EJymE)
(18) Artikel businessinsider.com zu israelischem F-35-Flieger: http://go.apa.at/795st9vr (archiviert: https://archive.ph/sYX5U)
(19) Informationen über Tarnkappenflugzeuge: http://go.apa.at/pzKCX6d8 (archiviert: https://archive.ph/XwSun)
(20) Artikel auf spiegel.de zu Vorwürfen gegen Russland: http://go.apa.at/xw2au58Q (archiviert: https://archive.ph/7XuBj)
(21) Artikel auf spiegel.de zu NATO-Aussagen: http://go.apa.at/yt2N460R (archiviert: https://archive.ph/75YoW)
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Stefan Rathmanner / Florian Schmidt