Österreichs Veto gegen den Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien hat zuletzt hohe Wellen geschlagen. Mehrmals musste sich Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) für seinen Alleingang rechtfertigen und führte gegenüber Medien (1,2) Daten des Innenministeriums an, die Rumänien und Bulgarien als relevante Migrationsrouten belegen und damit Österreichs Vorgehen rechtfertigen sollten. Aber wie aussagekräftig sind die Zahlen eigentlich?
Einschätzung: Die Daten sind nach Angaben von Expertinnen nicht aussagekräftig. Aktuelle Frontex-Berichte widersprechen diesen zudem.
Überprüfung: Österreichs Begründung, gegen einen Schengen-Beitritt von Rumänien, Bulgarien und anfangs auch Kroatien zu stimmen, ist seit Mitte November wesentlich unverändert: 100.000 „illegale Grenzübertritte“ habe es heuer bereits nach Österreich gegeben, davon seien 75.000 in keinem anderen EU-Staat registriert gewesen, so Innenminister Gerhard Karner (ÖVP).
Da Österreich innerhalb der EU mit seiner Entscheidung fast alleine dastand – lediglich die Niederlande stimmten auch dagegen – musste es von mehreren Seiten Kritik einstecken. Sogar die in Migrationsfragen eigentlich als Hardliner bekannten Rechtsregierungen in Italien und Ungarn stimmten für die Schengen-Erweiterung.
Als Rechtfertigung übermittelte das Bundeskanzleramt u.a. der APA Zahlen des Innenministeriums, die auf den ersten Blick den Anschein haben, als wären Bulgarien und Rumänien tatsächlich relevante Migrationsrouten nach Österreich. Ein Auszug: 40 Prozent der Migranten kämen mit dem Flugzeug nach Belgrad, um dann mit Schleppern über Serbien und Ungarn bzw. über Serbien, Rumänien und Ungarn nach Österreich zu fahren. Weitere 40 Prozent kämen auf dem Landweg von der Türkei über Griechenland oder Bulgarien nach Serbien oder Rumänien und dann nach Ungarn und Österreich.
78 Prozent der Afghanen und 2/3 der Marokkaner hätten Bulgarien zudem „als erstes EU-Land“ genannt. 50 Prozent der Personen aus Bangladesch hätten angegeben, über Rumänien gereist zu sein. Belegen würden das Einvernahmen von Migranten und Schleppern sowie Geo-Daten von mehr als 400 Mobiltelefonen, so das Innenministerium.
Wissenschaftliche Einordnung der Daten
Zur wissenschaftlichen Nachvollziehbarkeit sind Informationen wie die Erhebungsmethode, die Stichprobengröße und die Art der Befragung relevant. Diese blieben auf APA-Anfrage vom Bundeskriminalamt unbeantwortet. Auch den Datensatz übermittelte das BKA der APA nicht, mit dem Verweis darauf, dass eine „Weitergabe an Drittpersonen ohne Parteienstellung sowie eine Veröffentlichung“ wie bei allen Daten in kriminalpolizeilichen Ermittlungsverfahren untersagt sei. Fest steht, dass die Daten alleine schon aufgrund dieser fehlenden Informationen mit Vorsicht zu genießen sind.
Nach Angaben von Daniela Pisoiu (3), Politikwissenschafterin am Österreichischen Institut für Internationale Politik, sind solche Daten als Statistik über die Migrationsrouten nicht aussagekräftig: „Es handelt sich um Informationen, die im Rahmen von bestimmten personenbezogene Ermittlungen eventuell als Indizien in individuellen Verfahren von Nutzen sind, aber nicht um eine systematische Erhebung von Informationen über die Migrationsrouten, und sollten dementsprechend nicht als solche präsentiert werden.“
„Auffällig“ sei, dass die Grundinformationen über die Stichproben und die Methodik fehlen. Beispielsweise sei die Gesamtzahl der Befragungen von Migranten nicht bekannt. Die angegebenen Prozente seien daher eventuell nicht repräsentativ.
Afghanen sind stark in der Asylstatistik vertreten, weswegen 78 Prozent von ihnen, wie vom BMI angegeben, ein erheblicher Anteil wäre. Trotzdem stellt sich die Frage, inwiefern der Prozentwert auf die Gesamtzahl der afghanischen Asylanträge umgelegt werden kann. Im Prinzip kann nur gesagt werden, dass 78 Prozent der in der Erhebung befragten Afghanen Bulgarien „als erstes EU-Land“ genannt hat. Ob und inwiefern die verwendete Methodik eine Aussage über die Migrationsrouten geben kann, bleibt unklar.
Andere vom BMI angeführte Migrantengruppen sind in der Asylstatistik (4) weit weniger stark vertreten. So klingt es zwar nach viel, wenn angenommen 50 Prozent der Personen aus Bangladesch laut BMI über Rumänien gereist seien. Heuer kamen aber nur ein Prozent der Asylantragsteller aus Bangladesch. In Zahlen sind das 987 Anträge. 50 Prozent davon wären in Bezug auf insgesamt knapp 90.000 Asylanträge in Österreich bis Oktober 2022 eine vernachlässigbare Zahl. Dasselbe gilt für Marokko: 2/3 aller marokkanischen Antragsteller wären 3.573 Personen.
Auch eine Stichprobengröße von 400 ausgewerteten Handys sei „definitiv“ nicht aussagekräftig, so Pisoiu: „Natürlich nimmt man kleine Stichproben in Befragungen z.B., aber die werden nach gewissen Methoden selektiert – hier ist was man als ‚willkürliche Stichprobe‘ nennt, in dem Fall, was man finden konnte“. Die geringe Stichprobengröße sieht auch die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger (5,6) von der Wirtschaftsuniversität Wien im Gespräch mit der APA kritisch.
Methodik der Daten
Wie das BMI der APA mitteilte, stammen die Daten zu Schlepperrouten aus kriminalpolizeilichen Erhebungen der Landespolizeidirektion und des Bundeskriminalamtes. Konkret kommen die Daten aus Vernehmungen von Geflüchteten und festgenommenen Schlepper-Verdächtigen.
Pisoiu sieht die Methodik problematisch. Da es sich bei den Daten um keine wissenschaftliche Studie handle, sei unklar, ob die Rechte der Befragten aufrechterhalten worden sind. Würden Aussagen beispielsweise unter Zwang getätigt, beeinflusse das die Validität der Daten: „Die Wissenschaft ist zu gewissen ethischen und methodologischen Standards verpflichtet, die die Richtigkeit der Ergebnisse gewährleisten. Hier ist es nicht der Fall, daher sind diese Zahlen als Erhebung nicht zuverlässig.“
Auch diese Einschätzung überschneidet sich mit jener von Kohlenberger. In einer wirklich freiwilligen Situation, wie es in der Wissenschaft der Fall sei, könne die Befragung jederzeit abgebrochen werden, so die Migrationsforscherin. In einer Druck-Situation könne es hingegen passieren, dass Befragte irgendetwas sagen, nur damit die unangenehme Situation ende. In wissenschaftlichen Settings müsste Geflüchteten zudem immer versichert werden, dass ihr Antwortverhalten keine Auswirkungen auf ihren Asylstatus habe.
Die Migrationsforscherin übte auch Kritik am BMI: „Wenn Forschende wissenschaftliche Studien durchführen unter Geflüchteten, wird öffentlich oft angezweifelt, ob sie denn auch die Wahrheit sagten – die Gefahr sehe ich bei Befragungen durch eine Behörde aber viel eher.“ So wären etwa Schlepper befragt worden, die der organisierten Kriminalität zuzurechnen sind. Dadurch sei fraglich, ob es sich um eine seriöse Quelle handle sowie ob Schlepper ihre eigenen Routen bekannt geben würden.
Widerspruch zu Frontex-Berichten
Darüber hinaus stehen die BMI-Daten im Widerspruch zu den beiden aktuellsten Berichten (7, 8, 9) der EU-Grenzschutzagentur Frontex. In diesen kommt die Behörde zu dem Schluss, dass die Westbalkanroute weiterhin die aktivste sei. Laut dem Bericht von 12. Dezember 2022 erfolgte fast die Hälfte aller irregulären Einreisen in die EU weiterhin über diese Route. Der Westbalkan umschließt laut Kohlenberger (10) „nach allgemeiner Definition“ Serbien, Bosnien, Montenegro, Kosovo, Albanien und Nordmazedonien. Die zweitaktivste Migrationsroute in die EU ist laut Frontex das zentrale Mittelmeer. Bulgarien oder Rumänien kommen da nicht vor.
Auch aus dem Lagebericht zu Schlepperei und Menschenhandel von 2021 (11) geht hervor, dass die östliche Mittelmeerroute/Westliche Balkanroute, die Westliche- und die Zentrale Mittelmeerroute für Österreich relevante Schlepperrouten seien. Nur eine von drei auf einer Karte eingezeichneten Landrouten führt über Bulgarien und Rumänien.
Kohlenberger ortete im Gespräch mit der APA einen großen Widerspruch: „Wir leisten uns für sehr viel europäisches Steuergeld eine eigene Grenzschutzagentur, die genau dafür abbestellt ist, solche Daten zu erheben und deren Zahlen vermitteln eine gänzlich andere Lage. Auch die Daten, die unsere europäischen Partner haben, (…) stehen in eklatantem Widerspruch zu den Daten, die das BMI veröffentlicht hat.“ Auch Rumänien hatte Österreich zuletzt vorgeworfen, mit falschen Zahlen zu argumentieren.
Bulgarien und Rumänien kämen als Transitland für Zugehörige der aktuell vorherrschenden „gemischten Migrationsbewegung“ auch aus geografischer Sicht nicht in Frage, führte Kohlenberger bereits mehrfach (5,6) aus – vor allem nicht für Personen aus Indien, Tunesien oder Pakistan, die meistens visafrei nach Serbien einreisten. Menschen, die auf dem griechischen Festland aufhältig waren und sich jetzt mit dem Wegfall der Covid-bedingten Reisebeschränkungen auf den Weg nach Nord- und Westeuropa machten, würden laut Frontex über die Westbalkanroute wandern.
Quellen:
(1) APA-Bericht über BMI-Zahlen: http://go.apa.at/dmuw1ERs (archiviert: https://archive.ph/UhUz1)
(2) Weiterer APA-Bericht über BMI-Zahlen: http://go.apa.at/EBvhCuVd (archiviert: https://archive.ph/DLEAZ)
(3) Gastkommentar von Politikwissenschafterin Daniela Pisoiu im „Standard“: http://go.apa.at/oTSEO5z4 (archiviert: http://go.apa.at/GMzVjcgT)
(4) Asylstatistik Jänner bis Oktober 2022: http://go.apa.at/WbUHM13Z (archiviert: https://perma.cc/3QKY-X5AY)
(5) Puls4-Interview mit Kohlenberger: http://go.apa.at/tQO9gYjW (archiviert: http://go.apa.at/NR1bidvv)
(6) ORF3-Interview mit Kohlenberger: http://go.apa.at/Gem7lg5D (archiviert: https://perma.cc/J4TC-DUVB)
(7) Frontex-Bericht von 14. November 2022: http://go.apa.at/NL1GdcZ2 (archiviert: http://go.apa.at/xM7xwWXZ)
(8) Frontex-Bericht von 12. Dezember 2022: http://go.apa.at/V1uOy5nn (archiviert: http://go.apa.at/QKmfYrus)
(9) APA-Artikel zu Frontex-Bericht: http://go.apa.at/6Y2QlItO (archiviert: http://go.apa.at/Y1Y6asOU)
(10) Tweet zu Westbalkan-Route von Kohlenberger: http://go.apa.at/pnvPrPEm (archiviert: http://go.apa.at/5bZjxGdM)
(11) Lagebericht zu Schlepperei und Menschenhandel 2021: http://go.apa.at/uwUfTrKZ (archiviert: https://perma.cc/VB6B-NNDL)
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Valerie Schmid / Florian Schmidt