Die Corona-Pandemie hat die Welt maßgeblich verändert und viele Schwachpunkte der globalen Gemeinschaft aufgezeigt (1). Mit einem sogenannten Pandemievertrag will die WHO (World Health Organisation) in Zukunft besser gerüstet sein, größeren Gesundheitskrisen erfolgreich zu entgegnen.
Im Lauf der Corona-Pandemie ist die WHO ins Rampenlicht gerückt, was vermehrt Kritik und Falschmeldungen über die Organisation zur Folge hatte. Zurzeit kursieren erneut Behauptungen (2,2a), wonach die Weltgesundheitsorganisation mit dem Pandemievertrag die Grundrechte der Mitgliedstaaten beschneiden und die Souveränität untergraben wolle.
Einschätzung: Die Behauptungen in den geteilten Postings sind teilweise irreführend. Die Souveränität der Mitglieder wird nicht ausgehebelt. Kritik an dem Vertragsvorentwurf gab es allerdings schon, insbesondere bezüglich des schnellen Tempos und der massiven Erweiterung der Kompetenzen der WHO im Notfall.
Überprüfung: Internationale Gesundheitsstandards und Notfallpläne mit den Rechten und Pflichten von individuellen Ländern sowie die Einhaltung der Menschenrechte und Freiheiten auf einen Nenner zu bringen, ist eine Gratwanderung. Informationen zum Pandemievertrag inklusive Überarbeitungen, Arbeitsprozessen und Kommentaren des Generaldirektors sind online zu finden. Allerdings bestehen diese aus hunderten Seiten mit Kommentaren, Ausbesserungen und Erklärungen, die teilweise schwer zu verstehen sind.
Was ist eigentlich der Pandemievertrag?
Mitten in der Corona-Pandemie, im November 2021 (3), haben sich die 194 Mitgliedstaaten der WHO (4), darunter Österreich, bei einer Sondersitzung der Weltgesundheitsversammlung (World Health Assembly, WHA) darauf geeinigt, einen internationalen Pandemievertrag aufzusetzen. Die Verhandlungen wurden einem neu eingesetzten „Intergouvernementalen Verhandlungsgremiums“ (Intergovernmental Negotiating Body, INB) aufgetragen. Ziel ist die Annahme des Vertrags im Mai 2024. Fortschritte wurden in der ersten Hälfte von 2023 erzielt, der Vorentwurf des Vertrags ist bereits online einsehbar (5).
Wer bestimmt mit und was soll der Vertrag bringen?
Laut dem Rat der Europäischen Union (6) gehören zu den Zielen des Vertrags die Stärkung der individuellen Mitgliedstaaten und eine Erweiterung ihrer sogenannten „core capacities“ (Grundkompetenzen), mehr Klarheit in den Aufgaben und Verfahren im Fall einer Pandemie sowie eine koordinierte internationale Arbeit im Gesundheitsbereich. Das soll dazu beitragen, Pandemien schneller zu erkennen, besser einzudämmen und im besten Fall zu vermeiden. Auch soll es einen gleichberechtigten Zugang zu medizinischen Hilfsmitteln wie Impfstoffen oder Medikamenten geben. Generell will die WHO internationale Rahmenbedingungen für den Gesundheitsbereich koordinieren.
Mehr als 300 Änderungsvorschläge für IHR
Derzeit finden zwei Prozesse zum Thema Pandemie und globale Gesundheit bei der WHO statt. Der neue Pandemievertrag wird von dem INB verhandelt und gilt ausdrücklich für das Pandemiemanagement. Der zweite Prozess ist die Überarbeitung der Internationalen Gesundheitsregulierungen (International Health Regulations, IHR, 7). Dies ist insofern relevant, als dass die WHO durch die IHR aus dem Jahr 2005 in der Lage ist, eine „gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite“ (8) zu erklären. Bis dato war diese mit Empfehlungen verbunden, die aber keine Weisungen darstellen. Im Lauf der Covid-19-Pandemie hat die WHO von diesem Recht Gebrauch gemacht – aber dennoch haben letzten Endes die Mitgliedstaaten über die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung entschieden.
Im November 2022 wurden von Mitgliedsstaaten und teilweise auch von Interessengruppen mehr als 300 Änderungsvorschläge (9) für die IHR eingereicht. Die vorgeschlagenen Änderungen wurden in einem Dokument zusammengetragen (10), das ebenfalls online einzusehen ist. Trotz in vielen Fällen strengerer Auflagen wird immer wieder die Souveränität der Mitgliedstaaten hervorgehoben, nicht zuletzt in einem Kommentar von WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus(11).
Kritikpunkte
Kritik gab es auch seitens Expertinnen und Experten. In einem Artikel auf OpinioIuris (12), der von Dr. Silvia Behrendt, Direktorin der Global Health Responsibility Agency (GHRA) in Salzburg, und Dr. Amrei Müller von der University College Dublin verfasst worden ist, werden die Änderungen im IHR wie auch die Arbeit der INB ausführlich diskutiert und kritisiert. Unter anderem führen die Autorinnen an, dass beide Prozesse ungewöhnlich schnell durchgeführt worden sind. Im Fall des Pandemievertrags sind es weniger als drei Jahre. Für Änderungsvorschläge im IHR standen nur vier Monate zur Verfügung. Kritisiert wurde zudem, dass die Kompetenzen der WHO massiv erweitert werden könnten, wenn die Änderungsvorschläge akzeptiert werden.
Laut der Analyse von Behrendt und Müller wäre es zum Beispiel möglich, in mehreren Situationen eine GNIT (Gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite) auszurufen. Sobald eine Notlage ausgerufen wird, könnte die WHO – mit den erwähnten Änderungen – zu einem globalen Gesundheitsgesetzgeber mit Kompetenzen werden, die die legislativen Fähigkeiten aller anderen UN-Organisationen übersteigen. Allerdings wird auch in diesem kritischen Bericht darauf hingewiesen, dass die Rechenschaft der WHO einen wichtigen Stellenwert hat, wie auch dass die etwaigen Änderungen in den Mitgliedstaaten mit Vorsicht durchgeführt werden, um zu vergewissern, dass die Souveränität nicht untergraben wird.
Generell beinhalten bindende WHO-Vereinbarungen immer Hinweise, dass die unterzeichnenden Staaten das Abkommen oder den Vertrag im Rahmen ihrer eigenen Verfassung anwenden können. Das ist in Artikel 19 der WHO-Verfassung (4) verankert. Damit wird klargestellt, dass internationale Verträge die demokratische Ordnung und Parlamente der WHO-Mitglieder nicht aushebeln können.
Auch im Fall des Pandemievertrags wird klargemacht, dass der neue Vertrag auf seine Kompatibilität mit Artikel 19 geprüft wird (13).
Links
(1) Horizon: https://go.apa.at/Usa9hke9 (archiviert: https://archive.ph/ZD99E)
(2) Facebook: https://go.apa.at/eQJaIy47 (archiviert: https://perma.cc/RG32-3F6H)
(2a) Facebook: https://go.apa.at/YL9Ci0Yh (archiviert: https://archive.ph/ihOLd)
(3) WHO INB Meeting November 2022: https://go.apa.at/DlAtUX6Z (archiviert: https://archive.ph/yGRAu)
(4) Constitution of the WHO: https://go.apa.at/8fa2GxX3 (archiviert: https://perma.cc/UWF7-56TL)
(5) Zero Draft for INB February 2023: https://go.apa.at/r5VZ8lT2 (archiviert: https://perma.cc/3762-YYTB)
(6) EU Rat Pandemievertrag: https://go.apa.at/bTLT7EYV (archiviert: https://archive.ph/2oZog)
(7) International Health Regulations: https://go.apa.at/P8uMqsry (archiviert: https://perma.cc/5PZD-8QVA)
(8) International Health Regulations: https://go.apa.at/0kiW6LoU (archiviert: https://archive.ph/zaZcl)
(9) Proposed Amendments to IHR: https://go.apa.at/OCmt3tmL (archiviert: https://perma.cc/S7NR-NE2V)
(10) Compilation of Proposed Amendments: https://go.apa.at/FEMjW9RU (archiviert: https://perma.cc/JT96-X65B)
(11) WHO DG Report February 2023: https://go.apa.at/hmyBIsnJ (archiviert: https://perma.cc/3GVW-SKPQ)
(12) Opinioiuris Artikel: https://go.apa.at/6nl6VnOS (archiviert: https://archive.ph/st4UF)
(13) WHO Meeting December 2022: https://go.apa.at/jmUbGDsa (archiviert: https://archive.ph/JN29r)
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Jules Walker / Florian Schmidt