Die Schmelze des Hintertuxer Gletschers in Tirol hat in den vergangenen Tagen für Aufregung gesorgt. Videos von Skifahrern in aufgeweichtem Schnee und Bächen entlang der Piste machten in Sozialen Medien die Runde. Eines der viralen Videos (1, 5, 6) ist nicht von heuer, wie die APA bereits berichtete. Ein weiteres Video (2,3,4) mit ähnlichen Schneeverhältnissen vermutlich schon – wie u.a. ein Vergleich mit aktuellem Bildmaterial zeigt.
Einschätzung: Ein 18 Sekunden langes Video, das vor allem auf Twitter kursiert, zeigt Skifahrer, die mit einem Schlepplift auf schwärzlichem Schnee hochgezogen werden. Dieses Video ist schon älter. In einem längeren Video sind Skifahrer zu sehen, die in einem Rinnsal aus Schneeschmelze einen Berg hinunter fahren. Vieles spricht dafür, dass dieses Video im Jahr 2022 am Hintertuxer Gletscher aufgenommen worden ist.
Überprüfung: Matthias Dengg, Mitglied der Zillertaler Gletscherbahn-Geschäftsführung, sagte zuletzt auf APA-Anfrage, dass das Video (1, 5, 6) mit dem dunklen Schnee nicht von heuer sei. Das sehe er daran, dass im Hintergrund Gletscherflächen abgedeckt sind, die im heurigen Winter nicht abgedeckt worden seien, so Dengg. Die Vliesabdeckung sei bei Sekunde 15 und 16 kurz am oberen Bildrand zu sehen, konkretisierte er. Abdeckungen (7) sollen das Gletscher-Eis etwa vor zu viel Sonneneinstrahlung schützen. Aus welchem Jahr die Aufnahme stammen könnte, traue er sich nicht zu sagen.
Auf einem weiteren Video (2,3), das unter anderem auf Facebook (4) mit über 300.000 Views viral ging, sind ähnliche Schneeverhältnisse sichtbar. Das Video ist aus einer anderen Perspektive gefilmt, wodurch weitere Teile des Skigebiets zu sehen sind. So lassen sich etwa in den ersten vier Sekunden einer der Felsgipfel und darunter liegende Schneeflächen erkennen. Vergleicht man die Verfärbungen im Schnee am Bildrand oben mit aktuellen Fotos (8) des Österreichischen Alpenvereins (ÖAV) vom Hintertuxer Gletscher, so zeigt sich, dass sie großteils übereinstimmen.
Das Video ermöglicht durch einen Kameraschwenk ab Sekunde 14 auch einen Perspektivwechsel, wodurch die andere Seite des Skigebiets sichtbar wird. Rechts neben dem Felsen sind ebenso mehrere weiße Felder zu sehen, die in Form und Anordnung denen aktueller Bilder stark ähneln.
Der Alpenverein teilte der APA auf Anfrage mit, dass ihre Fotos vom Hintertuxer Gletscher am 18. oder 19. Juli 2022 aufgenommen worden sind. Vieles spricht also dafür, dass die beiden Aufnahmen zeitnah voneinander entstanden sind.
Auch Dengg von der Zillertaler Gletscherbahn sagte gegenüber der APA, dass er davon ausgehe, dass das zweite Video von heuer sei. Ein ähnlicher Aufnahmezeitpunkt sei möglich, dass es am selben Tag entstanden ist, glaubt er nicht.
Was beide Videos eint, ist der katastrophale Pistenzustand. Birgit Kantner von der Abteilung Raumplanung und Naturschutz im Österreichischen Alpenverein betonte im APA-Gespräch, dass in der Beurteilung des Gletscherzustandes beachtet werden müsse, dass es heuer extrem hohe Temperaturen, wenig Schneefälle und im Sommer wenig Niederschläge gegeben habe. Trotzdem sei eine starke Tendenz erkennbar: „Dass die Gletscher schmelzen, ist Fakt. Dass sie jedes Jahr noch stärker zurückgehen, ist Fakt. (…) Alle Gletscher sind im Rückgang begriffen.“ Außergewöhnlich seien die hohen Sommertemperaturen und erschreckend sei, dass das Ausmaß der Gletscherschmelze schon so verheerend ist.
Auch Dengg betonte, dass die Situation im Winter und Frühling die derzeitige Situation außergewöhnlich gemacht habe: „Die Kombination aus wenig Schnee (Niederschlag) während des Winters und des Frühjahrs sowie der ungewöhnlich warmen Temperaturen im April, Mai und Juni hat die derzeitige Situation auf allen Alpengletschern von Frankreich über die Schweiz, Italien bis nach Österreich herbeigeführt.“
Nicht außergewöhnlich sind laut Kantner die Instandhaltungsmaßnahmen der Piste. Diese erkennt man im Bild- und Videomaterial etwa an den Baggern. Wolle man ein Gletscherskigebiet erhalten, seien Baumaßnahmen notwendig: „Gletscherskigebiet ist eine Dauerbaustelle. Aber das war schon immer so.“
Dem aktuellsten Gletscherbericht (9) des Alpenvereins (Messperiode 2020/21) zufolge fiel der Gletscherschwund zwar nicht so stark aus wie in den Vorjahren, setze sich aber kontinuierlich fort. Das Jahr füge sich „nahtlos in die herrschende Periode drastischen Gletscherschwundes ein, an deren zukünftiger Fortdauer nicht zu zweifeln ist“, werden die Leiter des Messdienstes Gerhard Lieb und Andreas Kellerer-Pirklbauer darin zitiert.
Eine Publikation (10) der Fachzeitschrift Nature Scientific Reports von Jänner 2022 kommt zu dem Schluss, dass die Gletscherschmelze „abnormal“ (11) schnell voranschreitet. Der Klimawandel habe erheblichen Einfluss auf die sogenannten „Eis-Archive“ am Gipfel der Tiroler Weißseespitze, heißt es. Der derzeitige Masseverlust der Gletscher sei deutlich höher als der Schnitt der vergangenen 6.000 Jahre.
Quellen:
(1) Tweet mit Video 1: http://go.apa.at/UQ9TUPfK (archiviert: https://archive.ph/6yUAw, Video archiviert: https://perma.cc/86PW-MA9E)
(2) Tweet mit Video 2: http://go.apa.at/nZNn36cc (archiviert: https://archive.ph/ZExzS, Video archiviert: https://perma.cc/453L-NJFN)
(3) Weiterer Tweet mit Video 2: http://go.apa.at/EAClq6ob (archiviert: https://archive.ph/SJViG)
(4) Facebook-Beitrag mit Video 2: http://go.apa.at/pDiTZxO2 (archiviert: http://go.apa.at/YGNWEGLL, Video archiviert: https://perma.cc/P2US-47TP)
(5) Weiterer Tweet mit Video 1 und Annahme, dass 2022 entstand: http://go.apa.at/C0OReV6H (archiviert: https://archive.ph/mQNV5)
(6) Weiterer Tweet mit Video 1 und Annahme, dass 2022 entstand: http://go.apa.at/O1ugR8iZ (archiviert: https://archive.ph/y9EXc)
(7) Bericht über Gletscherabdeckungen: http://go.apa.at/UFsjuwjC (archiviert: https://archive.ph/N1SIa)
(8) Alpenverein-Facebook-Post: http://go.apa.at/fPxTFaHe (archiviert: https://archive.ph/Q6EB5, Foto archiviert: http://go.apa.at/6zoD3KRi, Foto archiviert: http://go.apa.at/iwXzePJl)
(9) Presseaussendung zu Gletscherbericht des Alpenvereins: http://go.apa.at/Shs1pwQq (archiviert: https://perma.cc/4TNQ-ZCBU)
(10) Publikation der Fachzeitschrift Nature Scientific Reports: http://go.apa.at/UrgGPwzY (archiviert: https://archive.ph/OHK3x)
(11) Artikel der Österreichischen Akademie der Wissenschaften über Publikation: http://go.apa.at/VnsoEvRz (archiviert: https://archive.ph/qXIbV)
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Valerie Schmid/Stefan Rathmanner