Im zweiten Lockdown in Österreich bleibt die Gastronomie zu, die Schulen für die jüngeren Kinder und Jugendlichen allerdings offen. Dies sorgt in Sozialen Medien für Diskussionen. Sind Schulen in Wirklichkeit ein wichtiger Faktor für die Clusterbildung und Ausbreitung von Covid-19?
Befeuert werden die Diskussionen durch Aussagen der Infektiologin Petra Apfalter, deren Behauptung, dass Schulen keine „Treiber“der Infektionen wären, in diversen Medien wie dem Standard thematisiert und auch in Social Media-Postings (Beispiel 1, Beispiel 2) kommentiert wurde.
Zu überprüfende Information: Schulen spielen keine große Rolle beim Infektionsgeschehen in der Coronavirus-Pandemie.
Einschätzung: Soweit Studien bisher herausfinden konnten, sind Schulen nicht als bedeutende Infektionsherde belegt. Das zeigen auch heimische Zahlen zur Clusterbildung. Allerdings weisen Zahlen aus anderen Ländern darauf hin, dass Schulen auch für starke Clusterbildungen verantwortlich sein können.
Überprüfung: Die Österreichische Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) veröffentlicht wöchentlich eine „Epidemologische Abklärung„, aus der Clusterbildungen ersichtlich sind. In Kalenderwoche 43 wurden insgesamt 1.656 Cluster identifiziert, darunter waren 43 Cluster im Bildungsbereich zu verzeichnen, was einem Anteil von 2,6 Prozent entspricht. Der größte Clusterbereich (1.110) war der Haushalt (67 Prozent), gefolgt von 321 Clustern in der Freizeit. Dieser Bereich macht 19,4 Prozent der Cluster aus.
Am 22. Oktober sagte der österreichische Bildungsminister Heinz Faßmann in einer Pressekonferenz: „Schule ist ein vergleichsweise sicherer Ort“. Zum damaligen Zeitpunkt gab es lediglich sieben geschlossene Schulen in ganz Österreich. Unter den bisher 5.000 Covid-19-Tests an Schulen liege der Anteil positiver Ergebnisse bisher bei nur drei Prozent.
Am 5. November gab das Bildungsministerium per Aussendung bekannt, dass bei 5.910 Gurgeltests an Wiener Schulen 208 Tests positiv waren. Das entspricht einem Anteil von 3,52 Prozent.
Am 2. November sagte die Infektiologin Petra Apfalter vom Ordensklinikum Linz laut Standard: „Es ist gut und richtig, Kindergärten und Schulen offen zu halten.“ Die Leiterin des Instituts bzw. Nationalen Referenzzentrums für Hygiene, Mikrobiologie und Tropenmedizin der Elisabethinen sagte: „Es war nicht die Schule, es ist nicht die Schule, die der Treiber ist.“ Man wisse aus detaillierten Untersuchungen der Corona-Clusteranalysen, „dass Bildungseinrichtungen eine völlig untergeordnete Rolle spielen bei der Verbreitung des Virus“.
Eine Mitte Oktober veröffentlichte Studie des Bonner Institute of Labor Economics (IZA) hat den Effekt des Endes der Sommerferien auf positive Corona-Fälle in Deutschland untersucht. Dabei wurde keine Evidenz auf einen Effekt der Schulöffnungen auf die Fallzahlen festgestellt. „Drei Wochen nach dem Ende der Sommerferien fielen die Fallzahlen um 0,55 Fälle pro 100.000 Einwohner oder um eine Standardabweichung von 27 Prozent.“ (Original: „Three weeks after the end of summer breaks, cases have decreased by 0.55 cases per 100,000 inhabitants or 27 percent of a standard deviation.“). Daraus schließen die Studienautoren, dass die Wiedereröffnung nach den Sommerferien unter strengen Hygiene-Standards, kombiniert mit Quarantäne-Maßnahmen, die Neuansteckungen nicht beeinflusst haben.
Die Website „Kinder- & Jugendärzte im Netz“ stellte am 23. Oktober eine in JAMA Pediatrics erschienene internationale Meta-Studie vor, die Daten aus 32 Studien aus der ganzen Welt auswertete. Die Ergebnisse legen nahe, dass Kinder unter 10 Jahren bei gleichen täglichen Kontakten viel seltener mit SARS-CoV-2 infiziert werden als Erwachsene. Insgesamt hätten Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren im Vergleich zu Erwachsenen ab 20 Jahren eine um 44 Prozent geringere Wahrscheinlichkeit, sich mit SARS-CoV-2 anzustecken. Besonders gering war das Infektionsrisiko bei Kindern unter 10 Jahren. Ausgewertet wurden Daten von 42.000 Kindern und Jugendlichen, die an der Studie teilnahmen.
Am 12. Oktober äußerten sich Experten im Rahmen einer Pressekonferenz der Österreichischen Gesellschaft für Pneumologie (ÖPG), die APA berichtete, zum Thema. ÖGP-Präsident Ernst Eber (Universitäts-Kinderklinik Graz) sagte zur Situation bei den Kindern: „Nur etwa acht Prozent aller bestätigt Infizierten in Österreich gehörten der Altersgruppe von 0 bis 14 Jahren an. Nur 1,5 Prozent waren unter fünf Jahre alt. Von 4.000 Kindern und Jugendlichen mussten bisher nur knapp ein Prozent stationär behandelt werden.“ Die Gründe dafür könnten laut dem Experten darin liegen, dass Kinder und Jugendliche weniger ACE2-Rezeptoren im Gewebe aufweisen. Ein zweiter möglicher Faktor laut dem Pneumologen: ein trainiertes Immunsystem.
„Grundsätzlich ist es so, dass die Übertragung von Kindern zu Anderen sehr, sehr gering ist. Die Schulinfektionsrate liegt bei 0,5 Prozent, in Kindergärten bei einem Prozent. Wichtig ist, dass man rasch dran ist. Wichtig ist, dass man Kontakte schnell identifiziert. Und das rasche Testen, um komplette Schulschließungen zu verhindern“, so Eber. Die genannten Daten zur geringen Übertragungsrate von SARS-CoV-2 in Schulen und Kindergärten stammen aus einer Studie in Australien, wo die meisten Schulen während der ersten Welle weiter geöffnet blieben.
Dass die Lage in anderen Ländern durchaus anders ein kann, zeigt ein Blick auf den kanadischen Bundesstaat Ontario. Dort gibt es in einigen Städten Schulcluster, die bis zu 39 Prozent des nachweisbaren Infektionsgeschehens (etwa in der Hauptstadt Ottawa) ausmachen, wie eine grafische Darstellung des „Ontario COVID-19 Science Advisory Table“ zeigt. In Toronto sind es 22 Prozent, in York nur zehn Prozent.
Derzeit wird in der Diskussion um die Rolle von Schülern auch auf eine von der US-Gesundheitsbehörde CDC veröffentlichte Studie verwiesen. Demnach seien Kinder in Haushalten ebenso ansteckend wie Erwachsene. Tatsächlich kommt diese Studie auf eine Infektionsrate von 53 Prozent, wenn der sogenannte „Index patient“ ein Erwachsener oder ein Kind unter 12 Jahren war. Kinder im Alter von 12-17 Jahren hatten eine geringere Infektionsrate von 38 Prozent. Als „Index patient“ wurde die erste Person bezeichnet, die im Haushalt Symptome aufwies und folglich andere infizieren konnte. Dies ist allerdings ein Kritikpunkt an der Untersuchung, wie auch die Autoren einräumen. Denn eventuell existierte bereits eine asymptomatische Erkrankungen bei einer anderen Person im Haushalt.
Nachdem die Pandemie doch noch relativ jung ist, lässt sich die Rolle der Schulen wohl erst in einiger Zeit detailliert aufarbeiten. Dass Schulen ein regelrechter Treiber der Infektionen seien, lässt sich bisher allerdings aufgrund vorliegender Daten nicht bestätigen.
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Sonja Harter/Florian Schmidt
AKTUALISIERT AM 6. NOV. 2020 13:35