Vor etwa einer Woche brannte das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos fast vollständig nieder. Tausende Migranten wurden dadurch obdachlos. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) wandte sich daraufhin am 11. September 2020 in einem Video-Statement an die österreichische Bevölkerung.
Kurz glaubt, viele Menschen würden überrascht sein, wenn sie hören würden, wie viel Österreich eigentlich leiste, heißt es in dem Video: „Allein in diesem Jahr hat Österreich 3.700 Kinder aufgenommen. Das sind rund 100 Kinder die Woche, die einen positiven Asylbescheid bekommen haben“, so Kurz. Weiter sagte er, Österreich hätte in den letzten fünf Jahren seit Beginn der Flüchtlingskrise 200.000 Menschen aufgenommen. Auf Facebook hat das Video über 600.000 Aufrufe, auf YouTube über 19.000.
In der ZIB 2 vom 13. September 2020 wiederholte Kurz die genannten Zahlen: „Wir haben in Österreich in diesem Jahr alleine 3.700 Kinder aufgenommen. (…) Es wurde 3.700 Kindern in Österreich Asyl gewährt alleine in diesem Jahr. Das sind 100 Kinder pro Woche.“ Auch auf Twitter wird über die Zahlen diskutiert. Der APA-Faktencheck hat sich die genannten Zahlen von Kanzler Kurz genauer angeschaut.
Zu überprüfende Informationen: Im Jahr 2020 hat Österreich 3.700 Kinder aufgenommen. 100 Kinder pro Woche haben einen positiven Asylbescheid bekommen. Österreich hat in den letzten fünf Jahren seit Beginn der Flüchtlingskrise 200.000 Menschen aufgenommen.
Einschätzung: Die von Kurz genannten Zahlen sind inhaltlich mehrheitlich richtig. Die Formulierungen des Kanzlers sind aber unpräzise bzw. missverständlich und können so ein verzerrtes Bild von der Asylsituation in Österreich vermitteln. Eine Migrationsexpertin sowie die Diakonie widersprechen den Behauptungen Kurz‘ klar.
Überprüfung: Wie das Innenministerium auf Twitter bestätigte, gab es im Zeitraum Jänner bis August 2020 rund 7.800 rechtskräftige Schutzgewährungen (Asyl, subsidiärer Schutz oder humanitäres Aufenthaltsrecht). Davon entfielen 3.700 auf Kinder. Mit Ende Juli gab es laut der Juli-Asylstatistik, welche auf der Website des Innenministeriums die aktuellste ist, aber nur 577 unbegleitete minderjährige Asylwerber, welche einen Asylantrag gestellt haben.
Das heißt, man muss hier unterscheiden zwischen jenen Kindern, die neu aufgenommen worden sind und jenen, denen lediglich in diesem Jahr Schutz gewährt wurde (Asyl oder subsidiärer Schutz). Kanzler Kurz spricht einmal von „aufgenommen“ und im nächsten Satz von „positiven Asylbescheiden“ bzw. „Asyl gewährt“ – das ist missverständlich.
Die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger nimmt in einem Beitrag Bezug auf das Video von Kurz, da „einige Fakten über Flucht und Asyl falsch wiedergegeben“ worden seien, so die Expertin. Bezüglich der 3.700 Kindern, die Österreich heuer bereits aufgenommen hätte, schreibt sie: „Unter den 3.700 Kindern (…) sind viele Kinder, die entweder mittels Familiennachzug zu uns gekommen sind, oder tatsächlich „nachgeboren“ wurden, also hier in Österreich zur Welt kamen. Diese als „aufgenommene“ Kinder auszuweisen, erscheint mir statistisch heikel.“ Die Zahl der Anträge unbegleiteter minderjähriger Kinder (UMFs), also jene, die „tatsächlich in großer Not bei uns Zuflucht suchen“, belaufe sich bis Ende Juli dieses Jahrs „nur“ auf 577 Kinder.
Auch Christoph Riedl von der Diakonie kritisierte in der ZIB 2 von 14. September 2020, in der das Thema ebenfalls aufgegriffen wurde, dass es sich bei den 3.700 Kindern vorwiegend um keine Neuaufnahmen handle, sondern vor allem um Fälle aus den Vorjahren: „Das können unmöglich 3.700 Kinder sein, die hier nach Österreich heuer gekommen sind und auch einen positiven Asylbescheid bekommen haben. (…) Das geht sich nicht aus – nicht von der Verfahrensdauer (…), aber auch nicht mit der durchschnittlichen Anerkennungsquote. Das heißt, wenn man das alles abzieht, dann kommt man auf maximal 600 Kinder, die anerkennt (…) worden sein könnten“.
Das Innenministerium reagierte auf Twitter folgendermaßen auf die Aussagen von Kanzler Kurz: „Es wurden stets Schutzgewährungen kommuniziert. Die darin enthaltenen 3 Bereiche Asyl, subsidiärer Schutz und humanitäres Aufenthaltsrecht nach dem AsylG haben gemeinsam, dass dadurch Menschen ein Aufenthaltsrecht in Ö. zukommt, diese also in Ö. aufgenommen werden.“
Weiters behauptet Kurz in dem Video auf Facebook und YouTube, Österreich hätte in den letzten fünf Jahren seit Beginn der Flüchtlingskrise 200.000 Menschen aufgenommen. Das stimmt so nicht. Seit dem Jahr 2015 wurden laut dem Innenministerium insgesamt rund 200.000 Asylanträge gestellt, aber nur rund 119.000 Schutzgewährungen erteilt, wie die APA berichtete. Nur weil jemand einen Asylantrag stellt, bedeutet das noch nicht, dass er in Österreich bleiben darf. Es ist also nicht wirklich zulässig zu sagen, 200.000 Menschen wurden von Österreich „aufgenommen“.
Informationen des Innenministeriums zufolge gab es, wenn man den Zeitraum von Anfang 2015 bis inkl. Juli 2020 zusammenrechnet, 188.556 Asylanträge und 156.206 Asylentscheidungen. 87.111 Menschen wurde Asyl gewährt, 20.970 Menschen subsidiärer Schutz und 10.304 Menschen Humanitärer Aufenthalt. Insgesamt kommt man also auf 118.385 Menschen, denen Schutzgewährungen erteilt wurden und die zumindest eine Weile in Österreich bleiben dürfen. Hier sind die Asyl-Statistiken von 2015, 2016, 2017, 2018 und 2019 nachlesbar.
An dieser Stelle muss aber darauf hingewiesen werden, dass subsidiärer Schutz und Humanitärer Aufenthalt nicht dauerhaft sind. Subsidiär Schutzberechtigte erhalten etwa einen befristeten Schutz vor Abschiebung, wie sich hier nachlesen lässt. Längerfristig aufgenommen wurden also nur 108.081 Menschen.
Die Migrationsforscherin Kohlenberger ordnet Kurz‘ Aussage folgendermaßen ein: „„Aufgenommen“ würde in diesem Fall also nicht „permanent aufgenommen“ bedeuten, sondern lediglich, dass ein Asylverfahren gestartet wurde, welches mittlerweile auch wieder negativ beschieden worden sein kann.“
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Valerie Schmid/Elisabeth Hilgarth/Franz Spiegelfeld
AKTUALISIERT AM 16. SEPT. 2020 16:29