Der ehemalige Gesundheitsminister Rudi Anschober hat auf X/Twitter auf die Vorfälle im Jahr 2020 im italienischen Ort Bergamo erinnert. In einem von ihm geteilten Beitrag (1) ist aber auch ein Foto enthalten, das seit Jahren für Diskussionen sorgt und diese erneut entflammen lässt (2,3). Was ist die Geschichte hinter den fotografierten Militärtransportern?
Einschätzung: Das Foto ist authentisch und zeigt Militärfahrzeuge, die Leichen aus Bergamo zu Krematorien in der Umgebung bringen. Die heimischen Krematorien waren mit der Menge an Einäscherungen überlastet. Eine oft behauptete damalige offizielle Anweisung, Tote zu verbrennen, ist nicht auffindbar.
Überprüfung: Zu Beginn der Coronavirus-Pandemie im Jahr 2020 gehörte die italienische Stadt Bergamo zu den ersten besonders schwer von Covid-19 betroffenen Regionen. Ab Mitte Februar breitete sich dort das Coronavirus in einer vergleichsweise sehr alten und eng zusammenlebenden Bevölkerung aus (4), was zu vielen Toten führte.
Eine deutliche Übersterblichkeit in dieser 120.000-Einwohner-Gemeinde ist klar nachzuweisen (5,6,7). Eine hohe Anzahl an unerkannten Infektionen dürfte dafür den Ausschlag gegeben haben (8). Bei 57 Prozent der Bevölkerung waren dort schon im Juni 2020 Antikörper nachweisbar (9).
Das Foto des Militärkonvois
In dieser Situation entstand auch ein Foto, das um die Welt ging. Es zeigt mehrere Militärtransporter am Straßenrand, die in Bergamo Leichen abtransportiert haben sollen. Die italienische Nachrichtenagentur ANSA veröffentlichte es am 19. März 2020 mit der Beschreibung „Der erste Konvoi von Militärfahrzeugen brachte Mittwochnacht die ersten 60 Särge vom Friedhof in Bergamo zu Krematorien in anderen Regionen, damit die Beisetzungen stattfinden können“ (Original: „The first convoy of military vehicles on Wednesday night took an initial 60 coffins from Bergamo cemetery to other regions‘ crematoriums so funerals could be carried out.“) Diese Kontextualisierung wurde selbst in Medien weitergegeben, die teilweise für reißerische Aufmachungen bekannt sind (10,11).
Das Foto wurde auf der Welt als Mahnmal vor der Gefährlichkeit des Coronavirus herumgereicht, in einer Zeit, als Bergamo auf viele andere Länder wie eine Vorschau auf drohende Ereignisse wirkte. Ein „BR“-Artikel (12) analysiert die durch das Bild entstandene Angst sehr treffend, der auf der Aufnahme abgeschnittene Konvoi erscheine wie eine „vermeintlich unendliche Reihe“, obwohl es sich nur um dreizehn Fahrzeuge handelte. Der nächtliche Zeitpunkt und die militärischen Lkws in menschenleeren Straßen hätten beängstigend gewirkt.
In vielen Köpfen könnte in dieser Zeit, als noch nicht viel über das neuartige Virus bekannt gewesen ist, der Eindruck eines Massensterbens entstanden sein, das die tatsächlich brisante Gefahrenlage noch bedrohlicher erscheinen ließ. In Wirklichkeit sind durch das Virus auch nach den tatsächlichen Zahlen viele Menschen in kurzer Zeit umgekommen. Die in Bergamo ansässigen Krematorien sind nicht mehr mit der Menge der Einäscherungen zurechtgekommen. Laut einer Studie aus dem Mai 2020 sind in Bergamo bis dahin in den Corona-Monaten insgesamt 0,58 Prozent der Einwohner gestorben, in der Gruppe der 70- bis 79-Jährigen lag dieser Wert bei 1,81 Prozent, bei 80- bis 89-Jährigen bei 4,67 Prozent und bei Über-90-Jährigen bei 10,6 Prozent (12) .
Der Mythos um die angeordnete Einäscherung
Eine weiterer Faktor, der zu der Überforderung und den Nottransporten beigetragen haben könnte, ist aber auch ein erhöhter Anteil an Einäscherungen. Sowohl der BR (13) als auch für Corona-Maßnahmen kritisch gegenüberstehende bekannte Medien (14,15) verweisen auf Anordnungen zu Beginn der Pandemie, Coronatote zu verbrennen. Die Nachrichtenseite „Prima Bergamo“ schreibt, dass die Entscheidung zur Einäscherung von Toten in Bergamo vor Corona bei 45 bis 50 Prozent gelegen hatte und seit der Pandemie auf rund 80 Prozent gestiegen sei (16).
In einem Interview eines Arztes mit dem TV-Sender „La7“ (17) wies dieser damals auf die Notwendigkeit von Einäscherungen aufgrund der hohen Anzahl von Toten sowie aufgrund hygienischer Aspekte bei den Bestattungen hin und dass dies durch regionale Bestimmungen geregelt worden sei. Eine oft behauptete offizielle Anordnung zur Einäscherung von Toten konnte von APA-Faktencheck aber nicht gefunden werden.
Die „NZZ“ sprach im Mai 2020 mit einem Kapuzinermönch, der den Verstorbenen auf dem Zentralfriedhof das letzte Geleit gab. Auch dieser verwies auf die überforderten Krematorien und die erhöhte Anzahl von Einäscherungen, während diese in normalen Zeiten lediglich 48 Prozent aller Bestattungen ausgemacht hätten. „Eine behördliche Anweisung dazu gab es jedoch nicht“, sagte dieser in dem Interview.
Das „VICE“-Magazin sprach im März 2020 mit Alessandro Bosi, dem Vorsitzenden des italienischen Beerdigungsverbands FENIOF (18). Dieser verwies darauf, dass falsche Informationen unterwegs wären, wonach Covid-19-Verstorbene eingeäschert werden müssten. Das stimme nicht, sie können auch normal begraben werden. Die italienische Nachrichtenseite „Imagazine.it“ zitierte im März 2020 den Bürgermeister von Bergamo Giorgio Gori, der in einer Aussendung erwähnte, dass sich die meisten betroffenen Familien freiwillig für eine Einäscherung ihrer verlorenen Angehörigen entschieden hätten. (19)
APA-Faktencheck fragte hierzu direkt in Bergamo nach. Francesco Alleva, Pressesprecher von Bergamos Bürgermeister Gori, bestätigte auf Anfrage, dass es in Bergamo keine Pflicht zur Einäscherung der Corona-Toten gegeben habe. Am Anfang der Pandemie gab es lediglich eine Empfehlung der Leichenbestattungsärzte, die Leichen einzuäschern. 80 Prozent der Familien haben sich in der ersten Phase der Corona-Pandemie in Bergamo für die Einäscherung der Leichen entschieden, die freie Wahl wurde jedoch garantiert.
Quellen
(1) Twitter Anschober: https://go.apa.at/TKM2XaQC (archiviert: https://archive.ph/X7zPt)
(2) Telegram-Posting: https://go.apa.at/3l9maLBb (archiviert: https://archive.ph/dsLVw)
(3) Twitter Klenk: https://go.apa.at/MHJ57445 (archiviert: https://archive.ph/BCesc)
(4) Deutschlandfunk über Sterblichkeit in Bergamo: https://go.apa.at/0JLP7uff (archiviert: https://archive.ph/tIh1t)
(5) Studie zu Übersterblichkeit in italienischen Regionen: https://go.apa.at/5Gzape59 (archiviert: https://perma.cc/T2H6-UEVY)
(7) Der Standard über Sterblichkeit in Bergamo: https://go.apa.at/PVTJvDJU (archiviert: https://perma.cc/5QFA-9JXM)
(8) Studie zu Covid-19 in Bergamo: https://go.apa.at/NYI9IDOO (archiviert: https://perma.cc/H5D7-FTWU)
(9) Reuters-Meldung: https://go.apa.at/489O1tHg (archiviert: https://go.apa.at/YtdEXuQB)
(10) BILD-Zeitung: https://go.apa.at/rzsPNK5t (archiviert: https://perma.cc/G3L7-T354)
(11) Kronen Zeitung: https://go.apa.at/hLG7ITnM (archiviert: https://perma.cc/4V9M-3KXK)
(12) Studie zu Coronavirus in Bergamo: https://go.apa.at/kyVR3OAS (archiviert: https://perma.cc/8PZR-YK8N)
(13) BR-Artikel zur Aufnahme: https://go.apa.at/Q4082BqX (archiviert: https://perma.cc/E9XU-Y898)
(14) Unzensuriert-Artikel: https://go.apa.at/iCiVF3NE (archiviert: https://perma.cc/MR79-RXEU)
(15) Exxpress-Artikel: https://go.apa.at/UHcS1GR7 (archiviert: https://perma.cc/V4GG-95XH)
(16) Prima Bergamo: https://go.apa.at/yCnibh5z (archiviert: https://perma.cc/A3RR-PKBW)
(17) „La7.tv“-Interview: https://go.apa.at/FK1c5pAK (archiviert: https://go.apa.at/EmRUvzDc)
(18) „VICE“-Interview: https://go.apa.at/eHWUZTwq (archiviert: https://perma.cc/WR9L-P2WQ)
(19) imagazine.it: https://go.apa.at/fPuRWItG (archiviert: https://perma.cc/2DZU-53EY)
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Florian Schmidt / Micaela Taroni / Jules Walker