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blog / Donnerstag 01.09.22

APA Check Avatar Klimawandel setzt Wasserstand des Neusiedler Sees zu

APA/Nina Kornberger

Der Neusiedler See war im langsam zu Ende gehenden Sommer besonders oft in den Schlagzeilen. Fast täglich wurden neue historische Tiefststände bei seinem Wasserpegel vermeldet, die Touristiker und Landwirte in Aufruhr versetzten. Schuld an der aktuellen Entwicklung ist das bisher besonders trockene Jahr 2022. Alles nicht so schlimm, beschwichtigen Beobachter in sozialen Medien (1).

Als Beleg dafür wird ein Ausschnitt aus einer alten Fischereichronik geteilt, derzufolge der See rund um 1865 bereits ausgetrocknet war und sich danach wieder füllte. Kritisiert wird etwa bei Facebook bestenfalls die angebliche mediale Verschwiegenheit (2) rund um diese Tatsache.

Einschätzung: Die Chronik ist online für jedermann abrufbar (3) und berichtet von einer vollständigen Austrocknung des Neusiedler Sees vor etwas mehr als 150 Jahren. Zahlreiche Medien haben diese Informationen aufgegriffen und verbreitet und das nicht erst in diesem Sommer (4). Im Gegensatz zu heute bestand damals allerdings noch kein Grund zur Sorge um die Zukunft des Sees – Hitzeperioden waren eher klimatische Anomalien und nicht wie aktuell ein menschengemachter Klimatrend.

Überprüfung: Der Neusiedler See ist Österreichs flächenmäßig größter See. Er ist in vielen Belangen ein sehr eigenes Gewässer. Aufgrund seiner geringen Tiefe ist er in keiner Bestenliste heimischer Seen zu finden. Der Neusiedler See ist ein sogenannter Endsee. Er hat keine natürlichen Abflüsse, sein einziger künstlich angelegter Abfluss ist der 1909 an den See angeschlossene Einserkanal (5) auf heute ungarischem Staatsgebiet. Einziger nennenswerter natürlicher Zufluss ist die Wulka (6), ein nur rund 40 Kilometer langer Fluss im Nordburgenland.

Als Steppensee ist sein Wasserstand anders als bei anderen Seen hauptsächlich von Niederschlag und Verdunstung abhängig (7). Dass das Ausbleiben von Niederschlag und beschleunigte Verdunstung für den See weitreichende Folgen haben können, zeigten die 1860er-Jahre. Damals trocknete der Neusiedler See tatsächlich komplett aus.

Die Aufzeichnungen dazu gehen allerdings geringfügig auseinander. In einem „Lehrbuch der Geographie“ (8) ist von einer kompletten Austrocknung von 1860 bis 1868 die Rede. Die österreichische Fischereichronik aus 1975, die sich auf nicht näher genannte frühere Aufzeichnungen beruft, schreibt von 1865 bis 1871. Allerdings berichtet auch sie von der Rückkehr des Wassers an den tieferen Stellen des Seebeckens bereits im Jahr 1870.

In diesen Jahren wurden demnach Wege durch den See angelegt, sogar Wallfahrten wurden abgehalten. Der Seeboden wurde für die Landwirtschaft genutzt, sogar Reis wurde angebaut. Ausgedehnter Regen und Schneeschmelze füllten den See nach und nach wieder, schon 1876 soll er wieder seine volle Ausdehnung erreicht haben.

Dass die Medien diese Entwicklung verschwiegen haben sollen, ist eine Falschbehauptung. Eine Google-News-Suche nach den Schlagworten „Neusiedler See ausgetrocknet 1865“ (9) liefert mehr als zwei Dutzend Treffer. Das Nachrichtenmagazin „profil“ widmete dem Neusiedler See erst im August 2022 eine ausführliche Coverstory (10), in der auch von der Austrocknung im 19. Jahrhundert zu lesen war (11).

Diese passierte übrigens nicht das erste Mal: Der Neusiedler See war auch schon davor mehrmals ausgetrocknet, dokumentiert sind Trockenperioden rund 50 und 120 Jahre davor. Der Unterschied zu heute: Trockenen Jahren, selbst wenn sie aufeinander folgten, lag keine generelle Tendenz zu permanent steigenden Durchschnittstemperaturen (12) zugrunde.

Erst seit 1965 wird der Pegelstand des Sees genau dokumentiert (13). Dass dieser selbst innerhalb eines Jahres große Schwankungen aufweisen kann, zeigte gleich das erste Jahr: Zu Beginn eines Jahres war der See nie mehr so seicht wie 1965. Schon Anfang August desselben Jahres wurden bis heute nicht gebrochene Tagesrekordwerte verzeichnet, der Pegel stieg alleine innerhalb eines Monats um 35 Zentimeter (14).

Dennoch wird 2022 vorerst als Allzeit-Rekordjahr in die jüngere Geschichte des Sees eingehen. Seit Anfang März (15) dieses Jahres lag der Wasserstand praktisch durchgehend unter den bisherigen Rekordwerten – zuletzt um bis zu 22 Zentimeter darunter.

Ein Lokalaugenschein von APA-Faktencheck Ende August in Podersdorf zeigte nicht nur das Ausmaß der Wasserverdunstung, sondern auch die direkte Reaktion des Sees auf Regen. Noch am 27. August betrug der mittlere Wasserstand des Sees 114,917 Meter über Adria (müA) – Tiefstwert seit Beginn der Aufzeichnungen 1965. Nach den intensivsten Regenfällen seit einem Monat kletterte er tags darauf zwischenzeitlich auf 114,938 müA (16).

An der Messstation in Podersdorf lag die Schwankung in diesem Zeitraum bei bis zu zehn Zentimetern (17). Dieser Niveauunterschied war auch mit freiem Auge erkennbar, einzelne Sandbänke und kleinere Felsen wurden über Nacht – die Regenfälle von knapp 15 Litern pro Quadratmeter (18) gingen nachts nieder – mit Wasser bedeckt.

Doch nicht nur die extrem niedrigen Wasserstände in diesem Jahr sind unmittelbar auf menschengemachte Klimaveränderungen zurückzuführen. Auch hohe Pegelstände sind ein direktes Resultat davon. Im Sommer 2014 regnete es im Burgenland um 86 Prozent mehr als im langjährigen Mittel (19). In Podersdorf wurde damals ein neuer Regenrekord aufgestellt: 158 Millimeter in sechs Stunden (20) – im ganzen Sommer 2022 fielen dort bisher nur 140 Millimeter.

Die Folge des verregneten Sommers: Ab Mitte September 2014 bis Ende Jänner 2015 war der Wasserstand des Sees durchgehend am oder knapp unter seinem Rekordwert. Deshalb musste auch Wasser über den Einserkanal abgelassen werden, was aufgrund dessen Alters zu Überschwemmungen führte (21).

Klimaexperten sind sich einig: Die Erderwärmung führt nicht nur zu größerer Hitze und längeren Trockenperioden, sondern auch zu mehr Starkregen (22). Die Forschung dazu ist allerdings sehr komplex und heutige Messmethoden reichen nicht aus, um einen klaren Nachweis zu erbringen (23). Fest steht: Auf große Hitze folgt starker Regen. Jedes Grad Celsius mehr bedeutet im Falle von Regen drei bis sieben Prozent mehr Niederschlag.

Der Neusiedler See mit seiner speziellen Beschaffenheit ist den Einflüssen durch den Menschen (24) noch mehr ausgeliefert als andere Gewässer. Mit dem 1909 an den See angeschlossenen Einserkanal sollte der Wasserstand reguliert werden. Doch weil anfangs zu große Wassermengen abgelassen wurden – man erhoffte sich einen Zugewinn landwirtschaftlicher Fläche – breitete sich der Schilfgürtel aus. Das Volumen des Sees verringerte sich dramatisch. Mitte der 1930er-Jahre war der See laut profil nur noch 70 Zentimeter tief.

Der Neusiedler See ist bereits ausgetrocknet und dieses Schicksal könnte ihm wie auch ein erneutes Hochwasser wieder bevorstehen. Allerdings trifft uns alle im Gegensatz zur letzten Trockenperiode vor gut 150 Jahren eine kollektive Schuld. Schwankende Wasserstände sind für den See normal. Die vom Menschen mitverursachten Wetterextreme der letzten Jahre sind es aber nicht.

Quellen:

(1) Facebook-Posting: http://go.apa.at/sCQ7PfK7 (archiviert: https://archive.ph/Cui0c)
(2) Weiteres Facebook-Posting: http://go.apa.at/1VvRONNP (archiviert: https://archive.ph/GL0Vm)
(3) Fischerei-Chronik (PDF): http://go.apa.at/lZm8ZFF6 (archiviert: https://perma.cc/C377-6M2F)
(4) „Krone“-Artikel aus 2020: http://go.apa.at/sdDOW7b9 (archiviert: https://archive.ph/iZxeL)
(5) Geschichte des Sees: http://go.apa.at/a6JyTiYE (archiviert: https://archive.ph/MNvGT)
(6) Hydrographie der Wulka: http://go.apa.at/HJwCuFkP (archiviert: https://archive.ph/l7wgQ)
(7) Informationen zum Wasserstand: http://go.apa.at/vyjvxGRB (archiviert: https://archive.ph/LtHh2)
(8) Ausschnitt „Lehrbuch der Geographie“ (nur archiviert): http://go.apa.at/ULMhyxrl
(9) Google-News-Suche: http://go.apa.at/h0qSPe72 (archiviert: https://archive.ph/vcyvP)
(10) profil-Cover: http://go.apa.at/kG1hh8LV (archiviert: https://archive.ph/vWusa)
(11) profil-Artikel: http://go.apa.at/cYLXgjyO (archiviert: https://archive.ph/fon4H)
(12) ZAMG-Sommeranalyse 2022: http://go.apa.at/eWfLa8P7 (archiviert: https://archive.ph/RgSN1)
(13) Wasserportal Burgenland: http://go.apa.at/9l5vaq2a (archiviert: https://archive.ph/xpPid)
(14) Wissenswertes zum Wasserstand: http://go.apa.at/u4o9uT7R (archiviert: https://perma.cc/6MSH-U3JV)
(15) Wasserstandsentwicklung 2022: http://go.apa.at/a4fC3qem (archiviert: https://archive.ph/wx8nM)
(16) Mittlerer Wasserstand im August 2022 (nur archiviert): https://archive.ph/6Zy2X
(17) Pegelwerte Podersdorf im August 2022 (nur archiviert): https://archive.ph/jcL6V
(18) Niederschlagsverlauf Podersdorf August 2022 (nur archiviert): https://perma.cc/8SL8-R44P
(19) ORF.at-Artikel zum Wetterjahr 2014: http://go.apa.at/UBacnMqZ (archiviert: https://archive.ph/4g1pL)
(20) ZAMG-Infos zu Juli 2014: http://go.apa.at/td0bO7bT (archiviert: https://archive.ph/J6JwN)
(21) ORF.at-Artikel zu den Überschwemmungen: http://go.apa.at/xUEzQpbl (archiviert: https://archive.ph/znolv)
(22) GEO-Artikel über Starkregen: http://go.apa.at/yfWuYkmt (archiviert: https://archive.ph/bPnXx)
(23) ZEIT-Artikel zu Klimawandel und Regen: http://go.apa.at/q4qifw6H (archiviert: https://archive.ph/pGIaU)
(24) Wien Museum Magazin über den Neusiedler See: http://go.apa.at/7r5Yilza (archiviert: https://archive.ph/kC63p)

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Stefan Rathmanner/Florian Schmidt